3. Brief: 27. Mai
Christine,
ich weiß, ich habe dir erst vorgestern geschrieben. Es ist möglich, dass du meinen letzten Brief noch nicht erhalten hast. Aber ich muss dir einfach schon wieder einen neuen senden. Ich halte es im Moment ohne einen Kontakt zu dir kaum aus. Ich sehe und höre dich zwar nicht, aber wenn ich mit Papier und Stift an dem Sekretär im Ruhesaal sitze, ist es doch ein wenig so, als würde ich mit dir reden. Du bist doch der einzige Mensch, der mich diese Qual, die ich erleide, ertragen lässt, diese seltsame Kur in diesem Irrenhaus. Ich weiß, ich darf dieses Wort nicht benutzen: Irrenhaus. Der Blaukittel, der alle meine Briefe liest, wird diese Stelle schwärzen, bevor man meine Mitteilung an dich weiterleitet. Aber ich musste das einfach einmal aufschreiben. Es tut gut: Irrenhaus. Es ist ehrlich: Irrenhaus. Noch passender wäre vielleicht: Irrengefängnis. Irren-KZ, ganz verfehlt ist aber: Erholungsheim, Heilanstalt. Das „Heil“!, das ist so bösartig und sarkastisch wie das Nazimotto am Tor von Dachau.
Glaube mir, niemand ist hier wirklich daran interessiert, mich zu „heilen“ – dadurch ginge ihnen schließlich eine ordentliche Geldquelle verloren. Es ist allen völlig gleichgültig – so nett und aufmerksam und besorgt und hilfsbereit sie auch tun – was mit mir passiert. Hauptsache ich bleibe am Leben und weiterhin schön irre. Und falls einer noch nicht verrückt sein sollte: Hier schaffen sie dich, glaube mir. Die schaffen jeden. Ich habe hier einen jungen Mann kennengelernt, der war am Anfang ganz normal. Offenbar hat er bei einem Tobsuchtsanfall seine Mutter ins Krankenhaus geprügelt, aber das hatte einen guten Grund: Sie hat ihm seine Freundin vergrault. Allein wegen diesem verständlichen Wutanfall ist er hier. Bei der Polizei hat er sich dann auch etwas daneben benommen. Deshalb haben sie ihn hier her gebracht. Nochmal, er war vollkommen normal, als er ankam – so weit es so etwas überhaupt gibt. Es ist doch erstaunlich, wie viele Menschen in unserer Gesellschaft ihr Lebtag normal funktionieren, wenn man bedenkt, wie grausam sie ist. An dem jungen Mann haben sie jedenfalls das volle Programm abgespult und an seinem Verstand herumgepfuscht, weißt schon, ihn mit Drogen stillgelegt und … na ja … Nachdem er eingeliefert wurde, haben wir ein paar Mal gegeneinander Schach gespielt und er hat mich immer nach wenigen Zügen besiegt. Wir haben uns erkannt, wir haben beide das Mal auf der Stirn. Jetzt weiß er nicht einmal mehr, wie das Spiel geht. Er hat vergessen, wie die Figuren ziehen. Es ist schrecklich, barbarisch, was sie mit ihm gemacht haben. Er ist nur noch ein Wrack, debil und körperlich ruiniert. Verstehe, ich habe ihn genau beobachtet. Er kann ein Zittern nicht mehr unterbinden und trägt Windeln, starrt Löcher in die kotzgrüne Wand.
Immer, wenn ich ihn sehe, könnte ich weinen. Ich meine, das gelingt mir nicht, das ist ja klar. Du weißt, ich habe das verlernt. Manchmal spüre ich zwar den Druck, aber …
Aber ich bemerke, dass ich mal wieder viel zu viel von mir selbst rede. Das ist wie eine Sucht bei mir: Es gibt Tage, an denen interessiere ich mich nur für mich selbst. Vielleicht liegt es an den Gesprächen mit dem Blaukittel, in denen reden wir immer über mich.
Habe ich dir schon unser Erholungsheim beschrieben? Ich glaube schon, dass ich es bereits getan habe, aber ich weiß es nicht mehr. Egal: Das ist eine ausgesprochen großzügige Anlage, die wie ein U einen weiten Park umrahmt, der jetzt trotz der Vorweihnachtszeit voller grüner Bäume steht – keine Koniferen, weißt du, sondern Laubbäume, Eichen, Buchen, Eschen. Ich versuche, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, aber ich habe bisher keine plausible Erklärung gefunden. Es ist in dem Park auch nicht kalt. Man kann ohne zu Frieren zwischen blühenden Blumen spazieren gehen und im Schatten der Büsche auf den Bänken sitzen: Es muss so um die 20° C haben. Dass die Klimaveränderung hier so krass wirkt, glaube ich nicht. Vielleicht liegt es an dem Heizungssystem der Anlage, wir haben überall Fußbodenheizung. Ich glaube, die Rohre laufen durch den Park, der dadurch wie ein Wintergarten oder besser ein Treibhaus aufgewärmt ist. Allerdings ist über uns keine Glasdachkonstruktion – ich habe das nachgeprüft. Eine Inversionswetterlage möglicherweise. Seltsam, nicht wahr? Du musst dir das bildhaft vorstellen: Es ist Winter und ich sehe, wenn ich aus meinem Fenster in den Park sehe, das üppige Grün einer großen Trauerweide. Ich glaube, das haben sie absichtlich so eingerichtet, um uns irre zu machen.
Die Abteilungen sind hier streng von einander getrennt: Die Internen und die Exis – so nennen wir die Freigänger, zu denen auch ich zähle – die Neurotiker und dann, im „Bunker“: Die schlimmen Fälle. Wer einmal im „Bunker“ ist, kommt nicht mehr zurück. Ich bin auf Station II, aber ich soll verlegt werden. Ich werde auf Psycho I kommen, obwohl ich dem Blaukittel tausendmal erklärt habe, dass ich mir meine Rückenschmerzen nicht einbilde, sondern organische Gründe haben. Gut, der Umzug hat Vorteile, ich werde noch häufiger Ausgang haben. Vielleicht kann ich dich dann sogar an irgend einem Wochenende besuchen.
Das ist auch gleich die wichtigste Neuigkeit, die ich habe. Du siehst: Für mich ist es hier einigermaßen erträglich und mir geht es immer besser. Aber für andere ist hier die Hölle, das reale Gegenstück zu Dantes 7. Kreis, aber durch die Infamie der Hoffnung von ihm unterschieden und deshalb noch entsetzlicher, noch grausamer, als sich das der Dichter ausmalen konnte. Nichts ist schlimmer als enttäuschte Hoffnungen, Vertröstungen auf den nächsten Tag, an dem die erneuten Hoffnungen erneut enttäuscht werden.
Weißt du übrigens, das ich partiell geschäftsunfähig bin? Ein Blaukittel hat es mir erklärt. Ich bin auf der rechtlichen Stufe eines Zwölfjährigen. Oh, selige Jugend, über welche Schleichwege finde ich zu dir zurück? Es ist so, wenn ich mir auf dem Weihnachtsmarkt von meinem wöchentlichen Taschengeld eine Tasse Glühwein kaufen will, darf ich das. Will ich dem Kind allerdings ein Fahrrad zum Fest schenken, brauche ich die Einwilligung meines gerichtlich bestellten Betreuers oder – deine? Bist du jetzt meine Erziehungsberechtigte? Das ist lustig, nicht wahr? Hat aber auch seine Vorteile: Ich könnte mit einer Steinschleuder eine Schaufensterscheibe zertrümmern und du müsstest zahlen. Ich kann die Leute auf der Straße anpöbeln und die Polizisten beleidigen und keiner kann mir was. Ich habe übrigens vor, genau das zu tun; ich habe schon eine Liste von Leuten abgefasst, die ich demnächst beschimpfen, bespucken und beleidigen werde, allen voran die Repräsentanten dieses Scheißstaats, die sich auf unsere Kosten vollfressen und betrügen – aber nicht die Arbeit machen, für die wir sie gewählt haben. Sie haben zwar ein paar wenige Nazigesetze wieder aus dem BGB gestrichen, aber der Rest ist seit der Kaiserzeit unverändert. Unglaublich, nicht wahr? Man könnte mich zum Beispiel gegen meinen Willen in eine Irrenanstalt stecken, ohne mich vorher einem Arzt vorzuführen oder einen Gerichtsbeschluss zu bewirken. Mich wundert, dass es in Deutschland von Nazis und nicht von Kommunisten wimmelt (Hallo, Bernhard).
Niemand will sich mit uns beschäftigen. Man sperrt uns ein, riegelt uns von der ach so normalen Welt da draußen außerhalb des Parks ab und sollten wir tatsächlich einmal aufgrund eines Verfahrensfehlers oder als geheilt entlassen werden – unsere Rehabilitierung ist nicht einmal das Papier wert, auf der sie geschrieben wurde. Sozialisierung bedeutet nur eine langsam schwächer werdende Dosis Neuroleptika.
Wie geht es denn dem Kind? Grüße es von mir, seinem armen, entmündigten Vater, der bald hier heraus kommt – möglichst noch vor Weihnachten. Ich möchte das Fest mit euch feiern. Ich liebe dich und das ist keine Phrase.
-N.