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Nutzlose Menschen – Roman (Teil ZWEIUNDZWANZIG)

»Lass mich da drin reden. Ich habe mehr Abstand als du. Erniedrige dich nicht und spiele nicht die Szene der betrogenen Hausfrau. Sie steht dir nicht. Du willst das wahrscheinlich nicht hören, ich weiß: Aber vielleicht ist alles ganz harmlos und du machst dich lächerlich. Denke daran: Man benötigt für eine Verführung immer zwei Beteiligte; denjenigen, der verführt und den, der sich verführen lässt. Merkst du nicht, wie entsetzlich es ist, dass du zu Benjamin kein Vertrauen hast? Hat er dir dazu einen Grund geboten?«

Gitta antwortete nicht, es tat ihr aber wohl, sich kurz gegen ihre Freundin zu lehnen und an deren Stärke teilzuhaben. Sie war nicht der Meinung Beates, die immer so schrecklich vernünftig war. Aber der Gedanke, in dieses überfüllte Lokal zu stürzen, um Klammer oder der Hure, die er auf Benjamin hetzen wollte, die Augen auszukratzen, dieser Gedanke, der ihr gerade noch als der einzig durchführbare erschienen war, um ihre Ehe zu retten, verlor nun, als er zur Ausführung stand, gewaltig an Attraktivität. Sie erschrak, dass sie in solch platten Klischees denken konnte. Es war sicher besser, erst einmal Beate vorzuschicken. Es blieb dann noch immer genügend Zeit, zu handeln, falls sich ihre Befürchtungen bewahrheiteten und Benjamin mit einer Frau im Brandwirt saß. Gitta befreite sich aus der Umarmung und machte eine Geste, die Beate den Vortritt ließ.

Die beiden Frauen bahnten sich einen Weg durch die im Eingang stehenden und gut gelaunt schwatzenden Leute. Nachdem der Biergarten geschlossen hatte, war das Lokal nun sehr voll; viele hatten nur mehr einen Platz an der Theke gefunden. Die Luft war so verqualmt und stickig, dass den beiden Nichtraucherinnen sofort Tränen in die Augen kamen. Sie sahen sich vergeblich in dem Gewühl nach einem bekannten Gesicht um. Unter dem vorwiegend jungen Publikum, das hier die Zeit aussaß und ‘vorglühte’, bis die Diskotheken öffneten, waren die Gesuchten nicht zu entdecken. Beate schlängelte sich zwischen den an der Bar Stehenden hindurch und fragte den Wirt, der beflissen Gläser spülte, nach Klammer. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und übersah mit einem flüchtigen Blick den Raum.

»Klammer? Der war eben noch da.« Er polierte mit flinken Händen ein Weinglas. »Marga, ist Dr. Klammer schon gegangen?«, rief er quer durchs Lokal. Eine Bedienung, die eben aus dem Biergarten kam und ein Tablett mit leeren Weizengläsern balancierte, hob den Kopf und zuckte mit den Schultern, eine Geste, die nicht deutlich machte, ob sie eine Antwort gab oder bei dem Stimmengewirr nichts verstanden hatte.

»Nikki is’ vor zehn Minuten raus. Kann auch ‘ne Viertelstunde sein …«, wandte sich jemand von der Seite an Beate. Er stand neben ihr an der Theke und rutschte mit einem Bierglas in der Hand noch ein Stückchen näher. Sein verwahrlostes Aussehen und sein Geruch veranlassten Gitta, einen Schritt zurückzuweichen. Beate blieb ruhig stehen und legte Klammers hässliche Aktenmappe neben sich auf den Tresen.

»Guten Abend, Alfons«, sagte sie lächelnd. Gitta starrte sie ungläubig von der Seite an. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es möglich war, dass ihre Freundin diesen stinkenden Alkoholiker, der die beiden mit lüsternen Blicken abschätzte, überhaupt kannte und dann auch noch freundlich grüßte.

»Du kennst diesen Penner?«, füsterte sie in Beates Ohren, aber Andernaj hatte gute Ohren und antwortete etwas pikiert an deren Stelle:

»Das is’ der Vorteil, wenn ‘mer in ‘ner überschaubaren Stadt lebt. Überschaubar, das klingt besser als ‘kleinkariert’, nich’, is aber’s gleiche Wort. Ich mag das. Wenn ich morgen umfall’ oder besoffen ins Rathaus kotz’, wissen’s noch am Abend alle: Der Andernaj hat ins Rathaus gekotzt. Der Gedanke hat was Beruhigendes und es is’ immer wer da, der mir ‘n Bier spendiert.« Zur Bekräftigung trank er seinen Glas leer. »Aber dein Name is’ mir grad nicht präsent, Mädel, das tut mir in der Seele weh. ‘Erinnere ich mich doch nur der Wolken…’ un’ so weiter, hab’ ich mal auswendig gekonnt.«

»Erinnere ich mich doch nur der Wolken,
die beim Liebesspiel mit uns trieben,
und das Gras, es war grün.
Doch der Name, Mädchen, und das Gesicht,
der Atem an meinen Wangen,
die Glätte dieser Brust, sie sind vergessen.
Weiß, es war schön, mit dir zu liegen
und die Wolken lagen weiß im Blau …«

, ergänzte Beate und zog sich einen weiteren erstaunten Seitenblick ihrer Freundin zu.

»… jagten heiß das Blau.«, verbesserte Andernaj schulmeisterlich. “Sonst hätt ich zweimal Weiß und das wär ein schöner Scheiß.” Dann klatschte er in die Hände. »Ich bin wahnsinnig geschmeichelt. Du hast das gelesen und kannst es auch noch auswendig? Kennst du etwa die anderen zehn Strophen auch?” Er drehte sich zu Gitta, die sofort ihre Hand vor das Gesicht hielt. “Das geht in dem Stil so weiter und heißt: Beim Ersten Mal. Ist sicher eine meiner schönsten Balladen, wenn auch ‘n bisschen kitschig.«

»Das ist beides wahr, auch wenn du dich kräftig beim Baal bedient hast. Ich bin eine gute Bekannte von Elli und bei ihr haben wir uns ein paarmal gesehen.«

»Genau, jetzt weiß ich’s wieder, du machst Musik, oder so was. Schreibst du nicht auch sonen Weiberkram mit Lavendel und Liebe in der Toscana? Elvira Böckelmann, hehe, die Liebe meines Lebens. Wie geht’s ihr?« Gitta, die dem seltsamen Wortwechsel bislang stumm und überrascht gefolgt war, erinnerte sich ihrer Wut und des Grundes ihrer Anwesenheit in dem Lokal.

»War Klammer allein?«, fragte sie und musste wegen dem Rauch, der in ihrer Kehle kratzte, husten. Andernaj sah erstaunt zu ihr und runzelte die Stirn.

»Äh, nee, da war einer bei ihm, so’n unscheinbar Blasser, Blonder; war wahrscheinlich einer seiner Jünger. Nikki geht nie ohne Publikum aus, ohne Eckermann für seine Aphorismen is’ er nich’ glücklich. Ham’ sich, glaub’ ich, ganz gut amüsiert, die beiden.«

»War … eine Frau dabei?« Es war Gitta anzumerken, wie viel Mühe ihr diese Frage machte.

»Nee, wär’ mir aufgefallen, dafür hab’ ich ‘n Auge, hehe. Die waren allein und ham hier gegessen. Dann sind sie wohl abgedampft.«

»Weißt du zufällig, wo sie hin sind?«, fragte Beate, die einen kurzen Blick mit ihrer Freundin wechselte. Andernaj kämmte sich mit der Hand die spärlichen Haare aus der Stirn. Sie fielen sofort wieder zurück.

»Wirklich nich’, vielleicht noch in irgend ‘ne Kneipe, is’ ja noch nich’ spät. Kann sein, der Dicke ‘ne Ahnung, der hat vorhin mal mit Nikki geredet.« Andernaj sah sich um. »Is’ Manfred schon weg?« fragte er den Wirt, der die ganze Zeit interessiert zugehört hatte. Der deutete auf ein halbvolles Rotweinglas, das vor ihm stand.

»Wenn ja, dann hat er die Zeche geprellt«, sagte er. Andernaj nickte ergeben.

»Jetzt heißt’s warten, Mädels. Der Dicke is’ auf ‘m Klo und das dauert.« Er verzog die Mundwinkel in ein, wie er glaubte, gewinnendes Lächeln. »Womit kann ich euch inzwischen die Zeit vertreiben?« Gitta wollte sich empört abwenden, aber Beate hielt sie am Arm fest.

»Du scheinst Klammer ganz gut zu kennen. Was ist das für einer?«, fragte sie, ihm aufmunternd zunickend. Andernajs Lächeln wurde spöttischer. Er wirkte etwas beleidigt.

»Was wollt ihr denn alle von ihm? Jeder fragt mich. Is’ heut denn Klammertag? Soll ich euch nicht lieber was von mir erzählen?« Beate, die offensichtlich genau wusste, wie sie Andernaj zu nehmen hatte, erwiderte:

»Du mit deiner Menschenkenntnis. Du bist doch mit der ganzen Welt befreundet und kennst alle Gesichten. Du wirst doch etwas wissen.« Andernaj seufzte und warf einen scheelen Blick auf sein leeres Glas. Beate verstand den Wink und bestellte ihm ein volles und sich einen Pinot.

»Eins is’ klar, über Nikki kann man stundenlang reden oder gar nich’. Was ich über ihn weiß, hab’ ich von ihm selbst und das ist nich’ viel. Er hat den Deckel auf seinem Privatleben.« Er machte eine Kunstpause. »Einen berühmten Skandal gibt es allerdings. Einmal hat er sich aus seinem Schneckenhaus gewagt. Das is’ schon ein paar Jahre her. Manfred kennt die Geschichte allerdings besser als ich. Aber wenn man vom Teufel spricht, hat ja gar nich’ so lang gedauert …« Andernaj deutete auf einen fetten Mann, der sich eben mühsam auf einen Barhocker stemmte und verwundert die Aufmerksamkeit konstatierte, die sich auf ihn lenkte.

»Das is’ Manfred. Manfred, du weißt doch einiges über Nikkis Leichen im Keller?« Das Gesicht des Dicken blieb unbewegt. Er musterte die Frauen abschätzig.

»Ich bin aber nicht so betrunken, darüber zu schwatzen. Das sind alte Geschichten und niemand kann ein Interesse daran haben, sie wieder in die Öffentlichkeit zu tragen.« Dies schien weniger auf die beiden Frauen als auf den noch immer aufmerksam zuhörenden Wirt gemünzt, der nun beleidigt abrückte, aber wahrscheinlich noch immer verstand, was geredet wurde. »Selbstverständlich war er nicht schuldlos, aber er war der vielleicht am wenigsten Schuldige und zugleich der Ehrenhafteste. Ihn hat die Sühne am härtesten getroffen, weil er die ganze Schuld auf sich nahm«, fuhr er geheimnisvoll und reserviert fort. Beate bewunderte seine schöne Stimme, hob aber spöttisch die Augenbrauen.

»Das war ja so vage wie mein Horoskop. Geht es nicht ein wenig genauer?« Manfred Sontheimer sah sie ernst von unten an; es war eine Melange aus Überheblichkeit und beleidigter Enttäuchung. Beate kannte diesen Blick aus ihrer Schulzeit. Das ist ein Lehrer, ging ihr durch den Kopf, dafür habe ich ein Gespür. Gleich fragt er mich aus und ich bin mal wieder nicht vorbereitet.

»Wer möchte das denn wissen?« Beate versuchte gleichzeitig mit Andernaj eine Antwort, der Dicke, der kein Wort verstand, beugte sich leicht vor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dadurch geriet er näher an Gitta.

»Wissen Sie vielleicht, wohin Nikolaus Klammer heute Nacht noch wollte? Er ist mit meinem Mann unterwegs, den ich unbedingt wegen einer wichtigen Sache erreichen muss. Mein Name ist Gitta Mammensohn-Sapher«, nutzte sie die Gelegenheit und traf den richtigen Ton. Er lächelte und reichte ihr die Hand.

»Und ich heiße Manfred Sontheimer. Es freut mich, Sie kennenzulernen; Sie erinnern mich an meine Frau Lydia. Ich habe in der Tat eben noch mit Dr. Klammer, den ich flüchtig kenne, gesprochen, aber er ist vor einer Viertelstunde gegangen.« Obwohl sie diese Information bereits besaß, machte Gitta ein trauriges Gesicht.

»Und Sie wissen nicht zufällig…?«, verschluckte sie ihre Frage resignierend. Beate bemerkte, dass der Dicke und Andernaj einen kurzen Blick tauschten und der Poet leicht den Kopf schüttelte. Sie überlegte, in welchem geheimen Einverständnis die beiden standen und nahm sich vor, von nun an besser aufzupassen.

»Zu meinem Bedauern habe ich nicht die geringste Ahnung, was der Herr Dr. Klammer in seiner Freizeit unternimmt. Es tut mir aufrichtig leid. Für mich wird es jetzt auch Zeit, zu gehen«, sagte Manfred ruhig und trotzdem klang es wie eine Lüge. Er sah an Gitta vorbei zur Tür. »Dort wartet auch schon meine Verabredung.«

Gitta wandte den Kopf. Dort am Eingang stand eine attraktive dunkelhaarige Frau und winkte dem Dicken zu. Sie wirkte ungeduldig und verärgert. Gitta fand es erstaunlich, dass die beiden miteinander zu tun hatten; sie war mindestens zwanzig Jahre jünger als der fette Mann. Das konnte doch wohl nicht seine Frau sein, von der er eben gesprochen hatte? Manfred griff nach seinem Portemonnaie und gab dem Wirt ein Zeichen. »Kann ich die Rechnung haben? Das Huhn war ausgezeichnet; ich hoffe nur, dass sich bei dieser Hitze seine Belastung mit Salmonellen in Grenzen hielt,« versuchte er zu scherzen, doch außer Andernaj, der ein meckerndes Geräusch hören ließ, fand ihn niemand lustig.

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