Das Zeichen des Lebens (1. Brief)

1. Brief: Anfang April

Hingeschmiert ein paar Sätze. Sie sind voller Erbitterung. Lies sie, wenn du das noch willst. Wenn nicht, höre hier auf zu lesen. Ich bitte dich, zwinge dich nicht. Zerstöre das Papier, zerreiße, verbrenne es von mir aus. Jetzt.

Du liest weiter? Ist die Meinung, die du von mir hast, doch nicht endgültig? Erhalte ich das Recht, unter dem Schafott, das du über mir errichtet hast, für meine Verteidigung zu sprechen? Ich pfeife auf deine Erlaubnis. Du irrst dich. Genau das werde ich nicht tun. Ich werde mich nicht verteidigen. Ich habe keinen Grund dazu. Ebenso wenig wie du es für nötig hieltest, die Schuld – sofern es überhaupt eine gibt! – bei dir selbst zu suchen. Ich verstehe dich schon richtig. Es war einfach, die Hand zu heben und auf mich zu deuten. Das machen ja alle: „Schuldig, schuldig“, rufen und sich in ihrem bürgerlichen und behaglichen Gerechtigkeitssumpf zu wälzen.

Ich weiß genau, was du jetzt denkst. „Was soll das?“, wirst du denken und: „Hat er nichts gelernt? Will er abwälzen, nicht eingestehen, nie verstehen?“

So antworte ich dir: Ich will nichts abwälzen und wenn mich die Last erdrückt. Alles will ich eingestehen. Ich weiß schon, ich bin es nicht wert, Mensch zu heißen. Nenne mich Schwein, Arschloch, nenne mich Ungeheuer. Alles will ich verstehen, glaube mir. Ich verstehe nur zu gut. Aber du musst dir schon die Mühe geben und mich so sehen, wie ich bin. Ich bin verletzt, getroffen. Ich habe geglaubt, wo ich nicht glauben durfte. Ich habe vertraut, wo ich nicht vertrauen durfte und ich geliebt, als mich deine Gleichgültigkeit erdrückte. Ich war ein großer, aber ein blinder Dummkopf.

Doch ich schreibe dir nicht, um dir mein Leiden vor die Füße zu kotzen. Denn ich will dein Mitleid nicht. Ich werde dir eine Geschichte erzählen. Das ist alles, was ich jetzt noch will – dir eine Geschichte erzählen. Sie ist mir vorhin eingefallen. Bevor ich für immer aus deinem Gesichtskreis verschwinde, endgültig – mag sein: Gottseidank! – aus deinen Augen, höre mir zu. Höre mir bitte noch einmal zu. Du hast es nicht für nötig gehalten, mich zu fragen, sondern hast wie die anderen „Schuldig, schuldig“, gerufen. Das hat mich getroffen wie nichts sonst, was man mir angetan hat.

Ich bin nicht fähig, an dich und an unsere Beziehung zu denken, ohne zu weinen. Ich will aber nicht mehr weinen, nie mehr. Sag mir, was soll ich tun?

lebzeichen1

»Es gab eine Zeit, in der waren alle Menschen eins und bei Gott und sie waren geborgen in seinem Land. Das hieß Eden und der Herr liebte sie. Diese Zeit, es war die goldene. Und das Land, in dem diese Menschen lebten, das war schön und groß, es war von Meeren umspült, hohe, erhabene Berge ragten daraus hervor in die Himmel, fruchtbar waren die Felder und der Ackerfrüchte voll. Die Bäume brachen fast unter der Last des Obstes. Niemand musste Hunger ertragen. Die Dörfer waren hell und freundlich und die Menschen waren wahre. Kurz, die Welt war, wie sie sein sollte und nie mehr sein wird.

Aber inmitten des Landes gab es eine Höhle. Dort hinein hatte Gott die Teufel der Zwietracht, des Hasses, der Eifersucht, des Neides und der Missgunst, der Perversion, des Verbrechens, der Lüge und des Todes gesperrt und ihnen verboten, ihre düstere Wohnung je zu verlassen. Damit die neun Teufel nicht mit den Menschen zusammentrafen und deren Seelen mit dem Gift des Bösen stachen, war es allen Bewohnern von Eden verboten, die Höhle zu betreten.

Ein kleiner und unbedeutender zehnter Teufel jedoch war dem Göttlichen Auge entkommen und stach beständig die Menschen. Sein Name war Neugierde. Aber noch lange war die Furcht vor Gottes Strafe größer als die Lust, in diese Höhle zu kriechen, um zu sehen, was es dort an Wundersamem gab. Zudem war sie dunkel und der Mensch fürchtet sich im Dunklen sehr.

Einst lebte jedoch ein mürrischer Mann in Eden, der bei niemandem beliebt war und keine Freunde hatte, denn er gab jedem Kunde, dass Gott daran schuld war, dass er mit einem steifen Fuß geboren war. Und sogar Gott, der tatsächlich nicht ganz schuldlos an seinem Gebrechen war, mochte ihn nicht allzu sehr. Der Mann aber wurde immer lauter in seinem Zorn und sprach davon, Dinge zu tun, die der Herr verboten hatte. Dann verschwand er plötzlich für ein paar Tage. Zuerst waren die Menschen seines Dorfs nur erstaunt, dann sorgten sie sich um ihn, endlich tauchten Gerüchte auf. Einige sagten, der Lahme habe einen der Berge bestiegen, um Gott besser beschimpfen zu können. Aber das wurde bald verworfen, denn wie hätte er mit seinem Fuß auf einen Berg erklimmen können? Das widerlichste Gerücht aber hielt sich hartnäckig, wurde immer lauter geflüstert und verbreitete sich wie eine Krankheit. Es behauptete, jemand hätte gesehen, wie der Mann mit dem lahmen Fuß in die Höhle der Teufel gekrochen, um Gott zu lästern.

Schließlich, als die Unruhe ihren Höhepunkt erreicht hatte, kehrte der Mann zurück aus der Wildnis. Er schien fröhlich und grüßte alle freundlich. Die Menschen beobachteten ihn zuerst heimlich und misstrauisch, dann böse. Schließlich stellten sie ihn zur Rede: „Du warst in der Höhle und hast Gott versucht. Die Teufel haben dich gestochen.“

Der Mann erschrak und leugnete: „Nein, das würde ich doch niemals tun. Ich habe einen steifen Fuß und ich fürchte mich vor der Finsternis so wie ihr. Wo ist euer Beweis?“

Aber die Menschen glaubten ihm nicht und sie riefen: „Schuldig, schuldig! Und das ist unser Beweis: Du lügst, wenn du behauptest, du wärst nicht in der Höhle gewesen. Deshalb warst du in der Höhle bei den Teufeln.“

Der Mann zitterte, aber er stritt alles ab. Da wurden die Rufe lauter: „Schuldig, schuldig!“, und ein paar Stimmen fragten, vom zehnten Teufel gestochen: „Aber sage uns, was war dort in der Höhle?“

Da wurde der lahme Mann sehr wütend. „Seht doch selbst nach. Mir glaubt ihr ja nicht. Geht, geht doch! Ich bin nicht der Hüter meiner Brüder.“

Und genau das taten sie. Alle Menschen versammelten sich und sie strömten in die Hölle, neugierig, was dort unten wohl zu sehen sei. Sie fühlten sich sicher vor Gottes Strafe, da er ihrer Meinung nach auch den Lahmen verschont hatte. Und die Teufel fuhren in sie und stachen sie. Da waren sie sich mit einem Mal fremd und so – ja, genau so – wie sie jetzt sind. Sie fielen übereinander her, beschimpften einander und schlugen mit Steinen auf den anderen ein.

Nur der Mann mit dem lahmen Fuß wurde verschont und blieb der, der er war, denn er war tatsächlich nicht in der Höhle gewesen. Als der Herr sah, was geschehen war, wurde er sehr traurig und wandte sich von den Menschen ab, die plünderten, vergewaltigten und sein wunderbares Eden mit endlosen Kriegen überzogen. Dem Lahmen aber gab Gott sein Zeichen auf die Stirn, damit er ihn und seine Nachkommen erkennen konnte, falls er eines fernen Tages zur Erde zurückkehren würde, ihn, den einzigen Gerechten unter den Mördern, das Lamm unter den Wölfen. Der Mann, der Kain hieß.

Schuldig, schuldig, Kain. Schuldig.«

ohne Unterschrift –

4 thoughts on “Das Zeichen des Lebens (1. Brief)”

  1. Wundervoll. Regt zum Nachdenken an. Ich bin ja kein gottesfürchtiger Mensch und habe noch nicht eine Zeile der Bibel gelesen. Allerdings kenne ich sehr wohl die Geschichte von Kain. Schön, wie du sie hier ‚umgedreht‘ hast.

  2. Danke. Ich bin zwar durchaus bibelfest (Nachwirkungen einer verfehlten Jugend), aber ebenfalls alles andere als gottesfürchtig. Trotzdem ist die Bibel eine wundervolle Quelle für Inspiration und Geschichten – insbesondere das alte Testament, dessen Ton ich gerne nachahme. Allerdings hat dieser Text mehr der Sage von Pandoras Kiste als der Bibel zu verdanken. -Grüße, Nikolaus.

  3. Kain Zweifel, die Bibel ist allemal die Bibel. Auch ich habe sie gelesen, nein, sogar studiert und wurde erfüllt. – Nur von was? Von was auch immer, es hat jedenfalls nix genützt.

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