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Nutzlose Menschen – Roman (Teil ZWANZIG)

»Nimm bitte diese Staffelei«, sagte der Maler pikiert. Noch immer machte er auf Sapher einen beleidigten Eindruck. Er packte persönlich sein unhandliches Bild und kam, es über seinem Haupt balancierend, zurück; diesmal wählte er einen Weg an den Terrassentüren vorbei. Wortlose ging er an Sapher vorbei und trat aus dem Raum. Dabei bückte er sich. Der Rahmen passte gerade noch durch so unter dem hohen Türsturz durch. Die Vorstellung, der Schöpfer universaler, dimensionsübergreifender Brüste müsste bei der Größe seiner Kunstwerke auf solch banale Dinge wie die Höhe einer Tür zu achten, erheiterte Sapher. Er hatte sich inzwischen an den Anblick der Bilder in dem Atelierraum gewöhnt und suchte sich schmunzelnd einen begehbaren Pfad durch das Brustwarzten-Labyrinth auf dem Boden. Als er das Gestell, auf das Sontheimer gezeigt hatte, zusammenklappen wollte, um es besser zu transportieren, fiel ihm auf, dass er allein war und jetzt die beste Gelegenheit hatte, Evas Zettel kurz zu überlesen. Viel konnte ja nicht auf ihm stehen. Er holte das Papier aus der Tasche und entfaltete es. Es waren drei Zeilen, die sie geschrieben hatte. Sie waren nicht ganz einfach zu entziffern, was nicht verwunderlich war, wenn er in Betracht zog, wie sie entstanden waren.

»Ich bin in Klammers Wohnung auf 14 a, gleich gegenüber von hier. Ich muss dringend mit dir allein sprechen. Komm deshalb so schnell du kannst nach!«, stand dort und Sapher las die Botschaft dreimal, bis er sie begriff. Er wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Dann hörte er laut Sontheimers Stimme, der ihn fragte, wo zum Teufel er denn mit der Staffelei bleibe. Schließlich könne er nicht ewig mit dem schweren Bild in der Hand herumstehen. Sapher steckte den Zettel zurück und packte entschlossen das sperrige Holzgestell. Auf auf die Wohnzimmer-Empore zurückgekehrt bemerkte Sapher, dass sich die Runde um eine Person erweitert hatte: Im Hintergrund, nahe bei Klammer, stand mit verschränkten Armen ein ihm unbekannter, dunkelhaariger und südländisch wirkender Mann, der ihn mit aufdringlichem, scharfem Blick musterte, als würde er ihn kennen, käme aber im Moment nicht darauf, wer er war. Sapher jedoch war sich sicher; er war diesem Mann noch nie zuvor begegnet. Der Neuankömmling war jung – nicht älter als zwanzig – hatte ein hübsches, weiches Gesicht und eine knabenhaft schlanke Figur. Er war auch für Männer eine äußerst attraktive Erscheinung. Kurz regte sich in Sapher der Verdacht, dieser Mann könnte vielleicht ein Grieche sein und auf den Namen Katasakinthokiakis hören. Doch dann half er eilig dem verzweifelt nach ihm rufenden Sontheimer, das Bild günstig ins Licht auf die Staffelei zu stellen und trat weit zurück, während die anderen sich um das Gemälde sammelten, um es zu kennerisch zu begutachten.

Diese Kunstbetrachtung gab Benjamin Gelegenheit, seine Situation zu überdenken. Sein Aufenthalt in der Wohnung des Malers missfiel ihm immer mehr. Er fühlte sich unter diesen Menschen, die ihm alle ihre vielleicht nur von ihnen eingebildete Überlegenheit fühlen ließen, unwohl. Dies hier war einfach nicht seine Welt; er fühlte sich wie ein Lamm unter Wölfen. Er hätte sich gerne mit Klammer allein über dessen Fehleinschätzung unterhalten, um ihm darzulegen, dass er, Benjamin, versagt hatte und durch eine einzige neugierige, dabei ausnehmend dumme Frage bei dem Maler Ablehnung und Unwillen erregt hatte, der Plan des Dr.’s, ihn bei Sontheimer und seinen Freunden einzuführen, deshalb gescheitert war. Es gab keinen Grund für ihn, länger hier zu verharren. Die Peinlichkeiten konnten nur noch schlimmer werden. Was er jetzt brauchte, war eine gute Ausrede, mit der er sich elegant von dieser Gesellschaft lösen konnte. Freilich hatte er auch im Sinn, Evas Aufforderung Folge zu leisten und mit ihr zu sprechen. Er brannte darauf, zu erfahren, was sie von ihm wollte. Klammer unterhielt in dieser Anlage eine Wohnung? Das war ja eine interessante Neuigkeit und würde ihm vielleicht die Möglichkeit geben, ein wenig an dessen lackierter Oberfläche zu kratzen und ins Innere des unnahbaren Mannes zu blicken. Er sah zu seinem Vorgesetzten, der ihm den Rücken zeigte und erstaunlicherweise vertraulich einen Arm um den jungen Ausländer gelegt hatte. Er verstand jetzt, weshalb sich Klammer hier in der Anlage so gut auskannte. Dass er hier eine Wohnung hatte und Eva einen Schlüssel zu ihr besaß, da sie ja in ihr auf ihn wartete, waren endlich einmal handfeste Informationen über den aalglatten Dr. Ob er mit der Rothschädl ein Verhältnis hatte – oder vielleicht mit diesem hübschen Jüngling? Diese Gedanken machte Sapher neidisch. Manche Menschen haben alles Glück, dachte er. Er empfand dabei seine eigene, eingeengte Situation als erstickend und beklemmend. Er wollte auch wie Klammer sein – ein überlegener, selbstsicherer Mann mit Intelligenz, Geld, bedeutenden Freunden und einer attraktiven Geliebten. Er wollte sich so selbstverständlich elegant kleiden, diese Umgangsformen und dieses Wissen besitzen und vor allem wollte er Eva Rothschädl an seiner Seite haben. Jede Faser seines Körpers sehnte sich danach, sie zu berühren und mit ihr zu schlafen. Die bislang nicht vollkommen eingestandene Heftigkeit seines erotischen Verlangens nach dieser Frau ließ ihn erschaudern und bewirkte eine körperliche Reaktion, die ihm wegen seiner weiten Stoffhose und der dadurch bedingten guten Sichtbarkeit peinlich war. Glücklicherweise waren alle mit dem Bild und nicht mit ihm beschäftigt. Selbstverständlich drehte sich Klammer genau in diesem Moment zu ihm und musterte ihn nachdenklich.

»Was hältst du davon, Benjamin?«, fragte er und versteckte ein Lächeln, indem er einen Schluck aus seinem Glas trank. Selbstverständlich hatte er Saphers Erektion bemerkt. »Deine Meinung wäre die interessanteste, weil uns allen unbekannte. Ich würde doch nur einen Monolog über Kandinski halten und Manfred über die Regeln der darstellenden Geometrie dozieren.« Alle Blicke gingen zu Sapher, dessen Erregung sofort verkümmerte und der sich wie ein in die Enge gedrängtes Tier fühlte. Er runzelte die Stirn und witterte eine Gelegenheit. Sein Herz schlug schneller. Wenn er jetzt unfreundlich über das Gemälde sprach, dann würde ihn Sontheimer – wenn er dessen Charakter richtig einschätzte – mit Sicherheit aus der Wohnung werfen. Er befeuchtete die Lippen und hatte Lampenfieber:

»Das sieht so aus, als hätten dieses Bild ein Zeichenprogramm und der Zufallsgenerator eines PCs entworfen. Wie nennt man das – Apfelmännchengrafiken? Fraktale? Ich kann überhaupt nichts daran finden, ich kriege vom längeren Hinsehen Kopfschmerzen und Schwindelgefühle. Wenn der Maler uns so etwas ernsthaft als die Quintessenz seiner verschrobenen Weltanschauung verkaufen will, dann muss er uns für schwachsinnig halten. Das ist kein Meisterwerk, das ist Schrott«, sagte er mit fester Stimme und wunderte sich, woher er den Mut und die Worte nahm. Sie sprudelten einfach aus einem Inneren empor – anscheinend machten sich nun doch Klammers Einfluss und die häufigen Gespräche in der Mittagspause bemerkbar. Sapher besah sich zufrieden die Reaktionen der anderen und gratulierte sich zu seinen groben Worten. Sie waren wie eine Bombe eingeschlagen. Klammer verschluckte sich, doch sein Husten ging schnell in ein atemloses Lachen über, in das Manfred gurgelnd einstimmte. Der südländich wirkende Junge verzog keine Miene, er wirkte zuerst, als habe er überhaupt nicht verstanden, wovon die Rede war. Dann bemerkte er jedoch trocken:

»Du bist sicher auch kein Freund von zeitgenössischer Lyrik.« Sontheimer schließlich sah wie eine Wachskopie seiner selbst aus, schien – zu keiner Regung fähig – für den Moment sogar das Atmen vergessen zu haben. Abgang, bevor er mich verprügelt, dachte Sapher zufrieden und sah auf seine Uhr.

»Es wird Zeit für mich, endlich heimzugehen«, sagte er ruhig, »es ist doch spät geworden. Meine Frau erwartet mich eigentlich um Mitternacht. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht. Herr Sontheimer, ich danke für die Gastfreundschaft.« Er nickte in die Runde. Als er sich abwenden wollte, fiel ihm noch etwas ein. Er wandte sich an Klammer, der mit einem Schlag ernst wurde und ihn lauernd beobachtete.

»Du brauchst dir keine Mühe machen, Nikki«, sagte er und legte boshaften Nachdruck auf die verbotene Anrede, »ich fahre mit einem Taxi heim.« Dann ging er die Wendeltreppe hinunter und bei jedem Schritt rechnete er mit einem Wort von Klammer, mit dem dieser versuchen würde, ihn zurückzuhalten, damit er seine Pläne doch noch ausführen konnte. Sontheimer sagte etwas, das wie russisch und sehr unfreundlich klang. Obwohl Sapher kein Wort verstand, konnte er sich die Bedeutung der Bemerkung allein durch den Tonfall ausrechnen. Der dicke Bruder lachte immer lauter werdend weiter, steigerte sich dabei in einen Erstickungsanfall, dem der junge Mann routiniert entgegenwirkte, in dem er ihm fest auf den Rücken klopfte. Es klang hohl. Aber Klammer blieb merkwürdig still. Er ließ sich den Abgang von Sapher widerspruchslos gefallen.

Unten in der Halle angelangt sah dieser noch einmal hinauf und da stand Klammer erneut gegen das Geländer gestützt. Sein Gesichtsausdruck war leer und nicht zu deuten, wirkte aber insgesamt nicht unzufrieden. Er nickte Saper erstaunlicherweise anerkennend zu. Der hatte es nun sehr eilig, die Wohnung zu verlassen. Draußen im dunklen Hausgang atmete er auf: Ihm war, als wäre eine Zentnerlast von seinen Schultern genommen. Das war es, dachte er und fühlte Endgültigkeit. Doch der Montag und eine erneute Konfrontation mit seinem Vorgesetzten würden kommen – es wurde immer wieder Montag – und damit die Frage, wie er sich nach diesem Abend weiter verhalten sollte, wie ihre Beziehung weitergehen würde. Für den Moment wollte er sich darüber allerdings keine Gedanken machen, denn er hatte nur ein einziges Interesse: Er wollte erfahren, was Eva in Klammers Wohnung von ihm wollte. Die Vorstellung, mit ihr allein ein verschwörerisches, vielleicht sogar intimes Gespräch zu führen, machte ihn fiebrig und schwindlig zugleich. Seine Frau Gitta, die ihm eben noch als Vorwand gedient hatte, war wie die Merkwürdigkeit, dass er sie telefonisch nicht hatte erreichen können,  von einer Sekunde zur nächsten vollkommen vergessen.

Da Sapher keinen Lichtschalter finden konnte, tastete er sich vorsichtig zur Treppe und ging sie im Dunklen hinunter. Sein angeschlagenes Bein schmerzte kaum mehr. Er war auf die Überraschungen, die ihm diese Nacht noch zu bieten hatte, gespannt. Und die folgende ließ nicht lange auf sich warten: Unter ihm im Erdgeschoss klickte etwas trocken und fast gleichzeitig wurde es hell im Treppenhaus. Jemand war herein getreten und hatte Licht gemacht, kam ihm nun mit festen Schritten von unten entgegen. Auf einem Absatz im ersten Stock begegneten sie einander und Benjamin stockte der Atem. Der ältere, etwas untersetzte Mann, der einen dunklen, gerippten Abendanzug trug und dessen herausragendes Merkmal seine fleischigen, immer feuchten Lippen waren, beachtete den Erschrockenen jedoch kaum, murmelte einen abgelenkten Gruß und ging weiter. Sapher stand auf dem Absatz, bis der Mann ganz nach oben gestiegen war,  dort klingelt und nach einer kurzen Wartezeit in Sontheimers Wohnung gelassen wurde. Erst als das Licht erlosch und Sapher erneut in ein aschefarbenes Halbdunkel hüllte, bewegte  er sich. Er fasste sich mit zitternden Händen an die Stirn und ihn fror trotz der aufgestauten Hitze in dem Treppenhaus. Die Sache spitzte sich zu. Er hatte im Gegensatz zu dem älteren Mann sehr wohl erkannt, wem er da begegnet war.

Es war Dr. Werner Hesz.

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[Hier endet das 5. Kapitel des Romans. Ich werde über die Osterzeit eine kleine Pause – und Urlaub – machen und dann mit dem 6., das ich bisher noch nie veröffentlicht habe, weiter machen. Das 5. Kapitel wurde von mir in die hier gratis downloadbare E-Book-Leseprobe (etwa 200 Seiten) eingebunden.]

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