Sontheimer kehrte mit Gläsern und einer Flasche Rotwein zurück und verkünstelte sich bei einer feierlichen Öffnungsprozedur. Klammer beendete seine Meditation und wandte sich zu Eva, die sich eilig aufrichtete. Sontheimer bemerkte dabei, wie sie einen Kugelschreiber in der Rechten hielt, den sie nun in die Brusttasche ihres Hemds schob. Klammer zögerte kurz, dann erkundigte er sich nach der Uhrzeit und als sie ihm von Manfred genannt wurde, sagte er in seiner gewohnt merkwürdigen Weise zu der schönen Frau:
»Beeil dich, mich zu umarmen, damit du spielen gehen kannst – denn ich glaube, es wird Zeit, nicht wahr?« Das klang wie ein Befehl, war ein kaum verhohlener Rausschmiss. Sapher hoffte, dass Eva aufbegehren würde, doch sie nickte ergeben.
»Ja, du hast recht«, erwiderte sie. Dann reichte sie den Männern nacheinander die Hand, verabschiedete sich von jedem wie ein artiges Kind. Sie begann mit ihrer Tour merkwürdigerweise bei Sapher, der am entferntesten von ihr saß.
»Gute Nacht, Benjamin, wir sehen uns am Montag im Amt«, sagte sie und strafte ihren oberflächlichen Tonfall mit einem beschwörenden Blick Lügen. Die Hände der beiden berührten sich und etwas knisterte danach zwischen Saphers Fingern, ein kleiner Fetzen Papier, den sie ihm auf diese Weise heimlich zuschob. Sein Gesicht war ein Fragezeichen, doch er verstand, dass sie ihm eine Botschaft übermitteln wollte, von der die anderen nichts erfahren sollten. Er mühte sich um ein Pokergesicht. Geschrieben hatte sie die Nachricht offensichtlich, als sie so tat, als würde sie die CDs von Sontheimer begutachten. Obwohl er vor Aufregung zitterte, gelang es Sapher, ihr beiläufig: »… bis Montag«, zu erwidern und die schnell zur Faust gespannte Hand langsamzurück zwischen Oberschenkel und Armlehne des Sessels zu schieben. Er war sicher sicher: Niemand hatte diese Heimlichkeit bemerkt. Nicht einmal der hellsichtige Klammer, der im übrigen gerade mit geschlossenen Augen sein Weinglas zu den Lippen führte und das edle Getränk degustierte.
Eva verabschiedete sich anschließend von Manfred, dann von Klammer, der mit gespitzten Lippen schmatzend den Wein kaute und nur abgelenkt nickte. Den Maler, der ergeben neben dem Dr. stand, servil die Flasche in der Hand, damit Klammer das Etikett bewundern konnte, ignorierte sie. Sapher hätte zu gern gewusst, was er getan hatte, dass sie so wütend auf ihn geworden war. Noch mehr interessierte ihn allerdings, was auf dem Zettel stand, den er in seiner vor Aufregung schweißigen Hand knüllte. Die Versuchung war groß, jetzt sofort aufzuspringen, ins Bad zu gehen und ihn dort zu lesen. Aber er musste doch wenigstens noch warten, bis Eva aus der Wohnung war. Sontheimer reichte ihm ein Glas, er nahm es mit der Linken und nippte. Der Wein schmeckte ihm und er nahm einen größeren Schluck. Sapher war Biertrinker, doch dass dieser Wein gut und wahrscheinlich auch teuer war, das merkte sogar er. Dieses Getränk allerdings wie Klammer in überschwänglichen Worten mit Adjektiven zu loben, die einen zufälligen Zuhörer auch hätten glauben machen können, es würde über eine Frau gesprochen, ging ihm zu weit. Er hätte seinem Vorgesetzten auch ohne diese Eloge geglaubt, dass er ein Kenner war, dies passte zu seiner Persönlichkeit wie die Tatsache, dass er trotz der Hitze hier unter dem Dack noch immer sein Jackett trug. Die Beamtin schloss die Wohnungstür geräuschvoll hinter sich und die vier Männer hoben gleichzeitig die Köpfe. Eva hatte Adam allein gelassen und beinahe körperlich spürbar entspannte sich die lastende Atmosphäre in dem Raum.
»Jetzt muss ich mal«, sagte Manfred breit, während er sich eine weitere Zigarette anzündete und war damit einen Wimpernschlag schneller als Sapher, der ebenfalls – allerdings aus anderen Gründen – auf die Toilette wollte. Er hatte sich deshalb schon fast erhoben und fiel nun, als sich der Dicke zielstrebig in Bewegung setzte, mit offenem Mund zurück in den Sessel. Sontheimer hielt jedoch seinen Bruder auf, indem er ihm den Weg verstellte. Das war mutig, denn Manfred hätte ihn ohne Probleme überrollen können.
»Jetzt nicht. Ich kenne dich, wenn du einmal über deinen Hämorrhoiden brütest, ist den ganzen Abend nichts mehr von dir zu sehen. Ich habe etwas wirklich Wichtiges vor, da heute meine härtesten Kritiker versammelt sind.« Er machte eine dramatische Pause und warf einen scheuen Blick auf Klammer. »Ich habe ein Bild fertiggestellt!«
Sapher wusste nicht, welche Reaktion der Maler erwartete, aber außer einem müden Seufzer von Manfred kam keine. Klammer steckte seine Nase leise lächelnd ins Weinglas. Vielleicht schränkte Sontheimer deshalb sofort ein: »Zumindest glaube ich, dass es fertig ist. Benjamin, hilfst du mir tragen? Ich habe mich für ein großes Format entschieden.« Obwohl er sich ein wenig wie Sontheimers Dienstbote fühlte, konnte Sapher schlecht ablehnen. Gehorsam stand er auf und schob dabei lässig seine Rechte in die Hosentasche. Heimlich war er stolz auf diese harmlos wirkende Geste, die das ihm von Eva zugesteckte Papier verschwinden ließ.
»Dann komm.« Sontheimer peilte den Vorhang an und Sapher folgte ihm. Sie traten durch den Gang in ein dunkles Zimmer, das Sapher auf gewaltige fünfzig Quadratmeter schätzte. Zu seiner Linken waren weit geöffnete, gläserne Türen, die zu einer Terrasse, auf der hochgewachsene, exotische Kübelpflanzen standen, führten. Ins schräge Dach waren große Fenster eingelassen; Sapher sah hinauf und bewunderte den Blick zum Sternenhimmel, der sich ihm dadurch überraschend bot. Die Nacht war so klar und inzwischen mondlos. Trotz des Lichtsmogs über der Stadt konnte ersogar den faserigen Dunst de Milchstraße erahnen. Bevor er jedoch Überlegungen über die Bedeutungslosigkeit seines Wollens und Seins angesichts der Unendlichkeit der ihn umrundenden Gesamtheit anstellen konnte, machte Sontheimer Licht und er konnte nur noch sich selbst sehen, halb von oben, gespiegelt von dem Fenster über sich. Der Raum war das Atelier des Malers. In einem überraschenden Gegensatz zu den leeren, penibel sauber gehaltenen Teilen der Wohnung, die Sapher bislang zu sehen bekommen hatte, herrschte hier ein unüberschaubares Chaos an Staffeleien, kleinen, filigranen Skulpturen, ungezählten Farbtöpfen, Pinseln, Malutensilien und an Bildern und Skizzen: In allen Stadien der Fertigstellung und in den unterschiedlichsten, nur selten rechteckigen Formaten hingen sie an den Wänden oder lehnten, einander verdeckend, in mehreren Reihen an ihnen, standen zwecks ihrer Fortführung auf ihren Gestellen und bedeckten den Boden, ein nur schmale Gassen freilassendes Labyrinth bildend, in dem sich Sontheimer so geschickt wie ein Ballett-Tänzer bewegte. Sapher blieb lieber beim Eingang, da ihn die Gemälde so verwirrten, dass er Angst hatte, ihm könnte schwindlig werden und er würde mit einem ungeschickten Tritt in einen Rahmen steigen. Auf den Bildern waren tatsächlich nur Brustwarzen in allen Größen, Formen und Blickwinkeln zu sehen, dazwischen – seltener – ihre Abstraktionen, bei denen natürlich Kreise die bevorzugte geometrische Figur waren. Diese Flut an sekundären Geschlechtsorganen hatte etwas Bedrohliches und Sapher begann an der geistigen Gesundheit des Malers zu zweifeln. Dieser steuerte durch die Lage seiner Bilder zu einem größeren Umweg gezwungen auf eine Ecke des Raumes zu, in der neben einer Liege eine große, kastenförmige Geräteanordnung stand, deren Sinn Benjamin nicht erfassen konnte. Farblich voneinander verschiedene Schläuche verbanden die Teile, an einer Seite war so etwas wie eine Pumpe.
»Was ist denn das?«, fragte er neugierig und befürchtete, dieses ihn medizinisch anmutende Gerät stellte vielleicht das sperrige Meisterwerk dar, das er hinübertragen sollte; eine Art Perpetuum mobile oder eine Weltmaschine. Er hatte von Sonderlingen gelesen, die solch sinnlose Dinge konstruierten. Sontheimer lächelte geheimnisvoll, trat zu seiner Maschine und legte eine Hand auf sie. Diese Geste war bemerkenswert zärtlich.
»Dies ist ein hadronenschleuderndes Entropiespektroskop«, erläuterte er lässig. »Es gibt noch drei oder vier andere Bezeichnungen dafür, die dir noch weniger erklären würden. Eschatologisch und damit einfach ausgedrückt: Ist diese Maschine in Betrieb, erzeugt sie im Lambert-Raum, das ist die n-1 te Exploration einer psycho-antropromorphen Dimensionalität, eine stehende, circumscripte Welle, die sich mit antichronischer, ionostatischer Energie lädt; ein Vorgang, der – jetzt für den Laien stark simplifiziert – mit der Massensteigerung von Tautonen bei ihrem Durchgang durch das Higgs-Teilchenfeld vergleichbar ist. Die Folge dieser Ladung ist eine amplitutionäre Implosion der Welle, die deshalb in diesem Zimmer das Einsteinsche Raum-Zeit-Kontinuum etwa vierhundert- bis sechshundertmal in der Sekunde, laienhaft gesagt, durchlöchert. Dadurch entsteht eine tubusförmige Stasis, durch die für die kinetische Emanation der Psyche eine wenngleich mangelhafte Konnektionalschleifentransmittierung zum Lambert-Raum möglich ist. Im Augenblick meines klinischen Todes steht also die Chance, ihn durch das Verschmelzen mit jener Dimensionalität zu überleben, ganz ordentlich. Wenn dieser Raum existiert, so geben gewisse Fähigkeiten die spirituelle Kraft, ihn mit einer solchen Schnelligkeit zu durchschreiten, dass ihre Wirkungen seiner Aufhebung gleichkommen. Von meiner Liege bis zur Grenze der Welt gibt es nur zwei Schritte: den Willen – den Glauben! Ich muss nur hier auf der Liege masturbieren, wenn der zeitlose Moment naht, der mein ephemeres Noch-Sein in dieser Existenz in ein Nichtsein metamorphiert, in der, um wie ein Dichter zu sprechen, meine Seele ihre Nikolausklammerung an das Jetzt löst, um die Ewigkeit mit ihrem Samen zu schwängern.«
Sapher lauschte mit offenem Mund. Als der Maler schwieg und ihn ernst und feierlich ansah, wusste er nichts zu erwidern, denn er war unsicher, ob er verarscht wurde oder nicht. Dann begann Sontheimer höhnisch zu lachen und beseitigte damit den Zweifel. Der Maler wurde Benjamin in einer geometrischen Steigerung unsympathischer.
»Das hast du mir jetzt beinahe geglaubt, nicht wahr? Denn jemand, der sich mit Swedenborg beschäftigt, muss ja einen Vogel haben. Aber Chesterton irrt, wenn er verallgemeinert, dass jemand, der nicht mehr an Gott glaubt, nicht an nichts, sondern an alles glaubt. Man gilt in dieser Gesellschaft schnell als verrückt und wird mitleidig belächelt, wenn man den Tanz um das goldene Kalb nicht mitmacht und ein wenig tiefer über die Dinge nachdenkt. In Wahrheit hat dieses Gerät hier den einen positiven, nicht unterschätzbaren Aspekt, mir die Zeit zu schenken, es zu tun – nämlich nachzudenken, in jeder Woche etwa dreißig Stunden lang. Denn nun ernsthaft: Diese diese Maschine dient zu dem Aderlaß, den ich alle zwei Tage für jeweils acht Stunden über mich ergehen lassen muß, wenn ich leben will. Sie reinigt mein schlechtes Blut. Ich bin seit einigen Jahren niereninsuffizient und doch in der glücklichen Lage, mir, bis ich ein Spenderorgan erhalte, zuhause ein eigenes Dialysegerät zu leisten.« Er sagte es leichthin, konnte aber doch einen Anflug der Erbitterung in seiner Stimme nicht unterdrücken. Sapher, der nun schamvoll erkannte, dass die blauschimmernden, verhornten Adern an Sontheimers Armen nicht durch Drogenexzesse, sondern durch das Legen intravenöser Kanülen entstanden waren, schüttelte bedauernd den Kopf. Und der Maler, der diese Erläuterungen nicht zum ersten Mal gab, bohrte weiter in seiner Wunde:
»Jetzt hast du Mitleid mit dem armen Behinderten. Das ist eine normale Reaktion. Ich habe mich längst an Mitleid gewöhnt und daran, da ss man mich wie ein rohes Ei behandelt und nicht ganz ernst nimmt. Selten genieße ich es, in der Regel kotzt es mich an. Ich bin nicht schwachsinnig, weil meine Nieren nicht funktionieren. Und jetzt hilf mir endlich, mein neues Bild rauszutragen.« Sontheimer trat neben seine künstliche Niere, wo ein rundes Gemälde stand, dessen Rahmen einen Radius von über einem Meter hatte. Es war eines von den abstrakt-geometrischen Kunstwerken des Malers. Sapher konnte in direktem Vergleich nicht erkennen, was dieses spezielle vor den anderen fertig und zum Meisterstück machte. Es war eine massive Häufung von intensiv farbenen, einander überlagernden Kreisen, Ellipsen und Sinuskurven, die, wenn man die Augen so weit zusammenkniff, dass die Konturen verschwammen, ähnlich wie bei den modischen Stereoskopiebildern tatsächlich eine erstaunlich plastische Ahnung einer weiblichen Brust erzeugte, aber das Auge aus der Nähe betrachtet hoffnungslos verwirrten. Benjamin war froh, dass der Maler keine Meinung von ihm zu erwarten schien, denn er hätte nichts sagen können, was sinnvoll oder zumindest intelligent klang.