»Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet«, bemerkte plötzlich der Lehrer mit einem prüfenden Seitenblick und ließ seine bräunlich-gelben Zähne sehen. »Ich heiße Manfred und bin der ältere Bruder unsres genialen Malers. Sind Sie mit Nikolaus hier? Ist er ein Freund von Ihnen?«
»Benjamin Sapher, es freut mich. Wir sind uns eben schon kurz im Brandwirt begegnet, erinnern Sie sich? Nikolaus und ich sind Arbeitskollegen und wir waren gemeinsam beim Essen. Ich habe ihn begleitet, weil er etwas mit Ihrem Herrn Bruder zu besprechen hat«, erwiderte Sapher freundlich und es tat ihm wohl, mit einem Fremden höfliche Belanglosigkeiten auszutauschen; auch wenn er etwas beleidigt war, dass ihn sein Gegenüber schon wieder vergessen hatte. Manfred nickte wissend.
»Ich nehme an, die beiden schweben mal wieder im Siebten Himmel der Metaphysik. Wissen Sie, wir treffen uns hier jeden Freitag, um die Welt zu retten. Aber was halten Sie eigentlich von Nikolaus? Wenn ich schon einmal einen Kollegen von ihm begegne, würde mich brennend interessieren, wie er im Alltag ist.« Sapher sah ihn so überrascht an, dass der Dicke sich gezwungen fühlte, sich näher zu erklären. »Ich meine, dieser Mann ist mir ein vollkommenes Rätsel. Ich kenne ihn seit über zwanzig Jahren, seit ich ihn zum ersten Mal in Siegfrieds alter Wohnung traf, das war eine heruntergekommene, feuchte Bude in der Altstadt. Da war unser großer Maler noch ein Insidertip und er kam regelmäßig zu mir und meiner Frau gerannt, damit er wenigstens einmal in der Woche etwas Warmes zu Essen bekam. Seit damals kenne ich Nikolaus, aber ich weiß eigentlich nichts von ihm. Oh, er ist ein herausragender Gesellschafter und eine Bereicherung an den Tagen, an denen er nicht allzu zynisch ist. Aber das ist auch schon alles, was ich über ihn sagen kann. Ich weiß nicht einmal, wann er eine eigene Meinung von sich gibt und wann nicht. Er ist ein Sack voller Aphorismen, aber keine Persönlichkeit. Manchmal glaube ich, er hört auf zu existieren, wenn er allein ist.«
Manfred schob seinen massiven Leib näher an Sapher heran und beugte sich vertraulich nach vorne. Er hatte seinen Arm noch immer nicht losgelassen und roch stark nach Nikotin. »Obwohl ich oft mit ihm spreche, weiß ich nicht, wo er wohnt, was er in seiner Arbeit macht und was in der Freizeit – außer irgendwo große Reden zu schwingen oder unverhofft in Vernissagen und Lesungen aufzutauchen. Er kennt tausend Leute und noch mehr kennen ihn, aber ich bin nie einem Freund von ihm begegnet oder einer Frau, mit der er …, Sie verstehen schon, intim war. Wissen Sie, er ist wie dieser Ami-Polizist im Fernsehen – dieser Inspektor Columbo, den kennen Sie sicher. Der kriegt zwar immer seinen Mörder, weil er ihm so lange auf die Nerven geht, bis er gesteht. Aber vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass man als Zuseher nichts von Columbo weiß. Der Mann ist ein nicht greifbares Phantom. Nicht einmal sein Vorname wird genannt. Nie sieht man ihn in seinem Büro, nie sind seine Wohnung oder seine Familie im Bild. Er redet zwar in einem fort von seinem privaten Leben, aber manchmal glaube ich, dass alles auch eine Lüge sein kann, konstruiert, damit er vor seinem Verdächtigen, den er ja dann auch meist wegen dessen Überheblichkeit fängt, harmlos wirkt. So erscheint mir auch Nikolaus. Er hat sogar die Eigenschaft dieses Inspektors, nachdem er sich verabschiedet hat in der Tür noch einmal kehrt zu machen und etwas zu sagen, das er vorgeblich vergessen hatte. Ich weiß einfach nicht, woran ich bei dem Dr. bin. Siegfried, der vielleicht mehr weiß, redet mit mir nicht über ihn, unser Verhältnis ist ehrlich gesagt nicht das Beste. Er hat mir gesagt, Nikolaus würde unlesbare Bücher schreiben; wissen Sie etwas davon?«
Sapher schüttelte den Kopf, nicht allzu sehr erstaunt, dass er nicht der einzige war, der Klammer nicht so richtig einschätzen konnte. Er musterte den Dicken und sah vorwurfsvoll auf seinen Arm, der noch immer im festen Griff von Manfred gefangen war. Es wunderte ihn, wie sich jemand so viele Gedanken um eine langweilige Krimiserie machen konnte. In diesem Moment war Klammers Stimme zu hören. Sie dröhnte missgelaunt und laut von der Empore wie von einer Kanzel herab, erschreckte die beiden Wartenden und ließ sie wie bei einer unrechten Tat ertappt zusammenfahren. Manfred ließ endlich Saphers Arm fahren, der sofort auf Abstand zu ihm ging.
»Mea culpa!«, rief der Dr. »Mea maxima culpa! Ich habe nicht ahnen können, wie mimosenhaft empfindlich du bist.« Er klang unwillig, kämpfte offensichtlich mühsam um seine Beherrschung. Evas Stimme war so leise, dass sie unten bei Sapher und Manfred nicht zu verstehen war, aber ihr anklagender, scharfer und zischender Tonfall war nicht zu überhören.
»Wenn mir eine andere Möglichkeit in den Sinn gekommen wäre, hätte ich Sie versucht, das musst du mir glauben. Ich will dich keineswegs beschämen«, erwiderte der Dr. auf ihren nicht verständlichen Einwurf. »Aber dieser vollkommen übersättigte Epikuräer …, ja, freilich, die Zeichnungen allein haben sein Interesse geweckt, was denkst denn du? Für einen Hedonisten, der im Jahr einhunderttausend Mark nur für die Befriedigung seiner Gelüste ausgibt, muss man sich schon etwas besonderes ausdenken. Und glaube mir: Er wird angehechelt kommen, wenn der Empfang vorbei ist – in einer Stunde, vielleicht früher. Heute ist er reif und seine Gier wird ihn unvorsichtig machen. Bis dahin muss …« Klammer beendete den Satz nicht. Denn in diesem Moment sah er über die Brüstung herab und sein Blick kreuzte den brennend neugierigen von Sapher. Kurz ging eine Unsicherheit über die Miene des Dr.’s, dann hob er eine Braue und spitzte, wie es seine Gewohnheit war, nachdenklich den Mund. Klammer machte auf Sapher zum ersten Mal in der Geschichte ihrer Bekanntschaft den Eindruck, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.
Wahrscheinlich überlegt er jetzt, wie viel ich gehört habe und wie verfänglich das war, dachte Sapher. Zu seinem Leidwesen konnte er mit den erlauschten Bruchstücken nichts anfangen. Bemerkenswert fand er nur, dass Klammer außerhalb der Bürostunden in einer wesentlich vertrauteren Beziehung zu Eva Rothschädl stand , als er zugeben wollte. Offenbar wirkte Klammers Einwand:
»Überlass das doch bitte mir. Ein wenig mehr Vertrauen wäre mir lieb. Aber was ist eigentlich mit diesem Katasakinto …«, fragte Eva nun deutlich hörbar und weil sie neben Klammer trat, geriet sie ebenfalls in Benjamins Blickfeld. Sie verstummte erschrocken mitten in dem Namen, den sie aussprechen wollte, der aber unverkennbar war und Saphers Puls erhöhte. Schon wieder dieser mysteriöse Grieche! Klammer wandte sich eilends zu Eva, legte beschwörend einen Finger an die Lippen. Dann sah er wieder zu Benjamin hinab und das Lächeln, das er herab sandte, war diesmal so gequält, als wäre es eine von einem Messer gezogene, klaffende Wunde.
»Warum steht ihr noch da unten?«, fragte er sich räuspernd und winkte dem Bruder des Malers grüßend zu. »Kommt doch zu uns herauf. Wenn du allerdings noch immer willst, Benjamin, dann kannst du auch gehen. Hattest du das nicht im Sinn?« Sapher schüttelte den Kopf.
»Nein«, zögerte er, während seine Gedanken rasten, »eigentlich nicht.«
Es kümmerte ihn nicht, dass ihn der Dr. erneut durchschaut hatte, denn er war daran gewöhnt, dass Klammer wie in einem offenen Buch in ihm las. Was ihn zum Nachdenken brachte, war der Name, den Eva nur halb vollendet hatte. Warum hatte sie von Katasakinthokiakis gesprochen, einer, wie er bisher geglaubt hatte, nebensächlichen Büroangelegenheit? In welchem Zusammenhang stand er mit der halb erlauschten Auseinandersetzung, die doch einen privaten Charakter vermuten ließ? Was hatte der Maler damit zu tun und – vor allem – weshalb war es ihr und Klammer so spürbar peinlich, dass ihr der Name herausgerutscht war? Sapher vermutete sofort eine gegen sich gerichtete Intrige, aber er konnte nicht erkennen, welches Ziel sie hatte und welche Rolle der rätselhafte Grieche dabei spielen sollte.
Nein, Nikki, wiederholte er hämisch in Gedanken, ich bleibe. Den Gefallen, jetzt zu gehen, mache ich dir nicht. Du selbst hast mich eingeladen und jetzt will ich sehen, wie sich die Sache entwickelt. Dabei sah er dankbar zu Eva, die ihm wahrscheinlich unbeabsichtigt eine Warnung hatte zukommen lassen und ihn jetzt, wenn er sich nicht täuschte, beinahe flehend ansah. Er hatte wieder das flaue Gefühl unterhalb des Magens, das er jedesmal spürte, wenn sich ihre Aufmerksamkeit zu ihm wandte. Las er in ihren dunklen Augen den Wunsch, er möge bleiben? Fast wollte es ihm so scheinen und der Druck im Unterleib verstärkte sich. Ein mitleiderregendes Ächzen lenkte ihn ab. Der fette Manfred hatte die Wendeltreppe, die mit diesem fast menschlichen Ton gegen sein Gewicht protestierte, betreten und schob sich langsam in die Höhe. Sapher befürchtete, der Dicke könnte auf halbem Weg stecken bleiben und er würde ihn schieben müssen, aber Manfred schaffte es doch ohne fremde Hilfe hinauf. Auf der obersten Stufe blieb er jedoch schwer atmend stehen und klammerte sich krampfhaft am Geländer fest, dabei mit seiner gewaltigen Körpermasse wie trunken hin und her schwankend. Sapher hatte noch nie einen solch plumpen Menschen gesehen. Klammers Gedanken gingen in die gleiche Richtung:
»Manfred, wenn du weiterhin so unvernünftig bist und fortfährst, ungesund zu leben, dann garantiere ich dir, dass du noch vor Weihnachten tot bist.«
»Glaubst du?», fragte der Dicke, während er sich eine Zigarette ansteckte und er klang mehr erfreut als erschrocken, beinahe schon hoffnungsvoll. Dann schüttelte er resigniert den Kopf. »Aber das ist nur die Hitze. Wenn das angekündigte Tief und die Gewitter kommen, wird es mir besser gehen. Man hat im Moment den Eindruck, es wäre kaum Sauerstoff in der Luft. Und hier unter dem Dach ist es besonders schlimm. Du hast selbst gesagt, die Magerkeit sei in einem parlamentarischen Regierungssystem ein schnell vergänglicher Vorzug«, bemerkte er etwas unzusammenhängend und atemlos, während er angestrengt paffte und sich sein rasselnder Atem langsam beruhigte.
Auch Sapher hatte nun die Treppe erklommen und sich an dem Dicken vorbei auf die Empore gequetscht. Er steuerte einen giftgrünen ledernen Sessel mit roten Armlehnen an, den er erwählte, damit er dieses hässliche Möbel nicht mehr sehen musste und weil er ihm von den Sitzgelegenheiten hier die am wenigsten unbequeme zu sein schien. Tatsächlich saß er darin auch überraschend gut. Sontheimer trat hinter dem Vorhang hervor in sein Wohnzimmer. Er hatte sich der Anwesenheit einer Frau angepasst und trug ein quergestreiftes, blauweißes T-Shirt, das ihn vollends wie einen Matrosen wirken ließ. Nur sein breiter, süddeutscher Dialekt störte das Bild vom wettergegerbten Seemann.
»Und wenn er eines Tages eine Herzattacke hat«, sagte er im Plauderton und kratzte sich nachdenklich an seinem Backenbart, dabei Klammers Gedanken fortsetzend, über den er nicht weiter betroffen wirkte, »und tot umfällt, dann wette ich, Manne wird es absichtlich hier oben tun und zwar nur, um mich und die Leichenträger zu ärgern. Wir werden einen Flaschenzug brauchen, um ihn nach unten zu schaffen.« Niemand fand diese Bemerkung komisch. Der Dicke schnaufte verächtlich und setzte sich ebenfalls, allein ein Sofa füllend, dessen Polster auf beiden Seiten durch sein Gewicht in die Höhe gedrückt wurde. Eva hatte sich bereits beim Erscheinen des Malers demonstrativ abgewendet und beugte sich zur Stereoanlage hinab, anscheinend widmete sie ihr Interesse der CD-Sammlung des Malers. Klammer sah noch immer in die Halle, die Stirn in Falten gelegt. Er sah aus, als würde er an der Brüstung eines Ausflugsdampfers stehen und auf dessen Ablegen warten. Die Gruppe war plötzlich in einander fremde Einzelpersonen zerfallen, die nichts miteinander zu tun hatten und die nur ein Zufall wie diese gemeinsame Schifffahrt zusammengeführt hatte. Eine Pause entstand, die der Maler beendete, indem er so laut in die Hände klatschte, dass alle außer Klammer, der nicht einmal den Kopf hob, erschrocken zusammenzuckten.
»Nach dem Coitus ist das Tier traurig«, sagte Sontheimer, nachdem er sich durch einen schnellen Blick überzeugt hatte, ob ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit gehörte. »Ich kenne das Gegenmittel und werde uns etwas zu Trinken holen«, und er ging seinen Vorsatz ausführen. Sapher sah auf die Uhr. Es ging auf Mitternacht und zum ersten Mal an diesem Abend fiel ihm Gitta ein, die ihn ja bald zu Hause erwartete. Dieser Gedanke erzeugte Unruhe in ihm. Wie bestellt lag Sontheimers tragbares Telefon vor ihm auf dem niedrigen Couchtisch.
»Darf ich?«, fragte er leise, aber niemand achtete auf ihn. Also nahm er kurzentschlossen den Hörer auf und tippte seine Nummer. Er ließ es zehnmal klingeln, bis er den Versuch, Gitta über seine Verspätung zu informieren, aufgab. Verwirrt hielt er das Telefon gegen sein Kinn. Schlief seine Frau und überhörte seinen Anruf deshalb? Das war eigntlich unwahrscheinlich, da sie sich, wenn sie Besuch von ihrer Freundin hatte, nur selten vor ein, halb zwei Uhr von ihr trennen mochte. Auch dass die zwei fortgegangen waren, glaubte er nicht, da sie sich zum Musikmachen getroffen hatten und ihn Gitta, die nicht sehr spontan war, mit Sicherheit vorher informiert hätte, hätte sie vorgehabt, das Haus noch zu verlassen. Vielleicht übten sie intensiv und hatten das Telefon lautlos gestellt, um nicht gestört zu werden. Das war möglich, aber so ganz konnte er nicht daran glauben. Er wiederholte seinen Versuch und erneut ging niemand an den Apparat in seiner Wohnung. Seufzend legte er das Telefon zurück. Dann eben nicht, dachte er, sie kann mir zumindest nicht vorwerfen, ich hätte es nicht versucht. Das Beste wird sein, ich versuche es in einer Stunde noch einmal.