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Nutzlose Menschen – Roman (Teil FÜNFZEHN)

Doch bevor der junge Machiavell mündig wurde und beginnen konnte, seine Phantasmen zu verwirklichen, traf ihn von Neuem die willkürliche Hand der Moira. Der Oberst Carol verstarb plötzlich und unerwartet an den Folgen eines heftigen Gichtanfalls. Er hatte zwar noch rechtzeitig seinem Neffen sein bescheidenes Vermögen  hinterlassen, ihn testamentarisch jedoch unter die Vormundschaft des Bauherrn Andoche Varese gestellt, mit dem er während des Kaiserreiches im *.ten Regiment gedient und dessen Bekanntschaft er nach seiner Rückkehr aus der Neuen Welt erneuert hatte. Dabei war dem Obersten im Schwelgen in gemeinsamen Erinnerungen der wahre Charakter seines Kriegskameraden entgangen. Dieser lebte nur für seinen Vorteil und war ein solcher Geizhals, warum er nie geheiratet hatte und selbst in der mit Geizigen so reichlich gesegneten Picardie seinesgleichen suchte. Varese erklärte sich nach kurzem Zögern bereit, die testamentarische Bürde zu tragen und den Neffen des Obersten als Mündel anzunehmen, da er sich durch die Verwaltung von dessen Vermögen einigen Nutzen erhoffte. Kaum lag Oberst Carol bei seinem Bruder im Familiengrab, ließ der Bauherr René ohne Abschluss aus der seiner Meinung nach unnötigen und viel zu teuren Schule nehmen und beschäftigte ihn als Laufburschen in seinem Büro, wo er ihm auch eine karge Bettstatt aufschlagen ließ. Dabei war Varese nicht einmal ungewöhnlich bösartig, denn er legte Renés Vermögen gewissenhaft an und wollte es ihm am Tage seiner Mündigkeit auch nicht verwehren, obgleich er plante, die Zinsen einzubehalten. Der Jüngling nahm diese neuerliche Wendung seines Schicksals mit der ataraxischen Gelassenheit eines Pyrrhon, allerdings nicht ohne Hintergedanken. Geduldig wartete er auf seine Gelegenheit.

Wie der Philosoph von Elis hielt er sich mit seinem Urteil zurück, doch was er in dem Vareseschen Kontor erlebte, konnte kein günstiges Licht auf den alten Bauherrn werfen, der mit scharfem Auge und strenger Hand jede – wie er vermeinte – unnötige Ausgabe unterband: Selbst in einem strengen Winter wurde nur geheizt, wenn die Tinte der Schreiber in den Gläsern gefror, er zwang sie, Filzpantoffeln zu tragen, um die Abnutzung des Holzbodens zu vermeiden, Stifte wurden mittels eines von Varese selbst entworfenen, wiederverwendbaren Aufsatzes bis zum letzten Strich des Schiefers verbraucht und der talgige Schein der billigen Kerzen trug durch den entstehenden Qualm mehr zur Verdunkelung als der Erhellung der Schreibstube bei. Außer in dem Kontor von Varese konnte man höchstens noch unter den Chiffonniers von Paris eine solche Ansammlung von verwahrlosten und verwegenen Gestalten sehen, von denen mancher nicht einmal für einen Hungerlohn, sondern, da alle dem Brotherrn Geld schuldeten, Negersklaven gleich, gegen eine karge Verköstigung, die Varese mittags aus einer nahen Garküche kommen ließ, arbeiteten. Dennoch waren alle Schreiber gerne für Varese tätig und das lag an einem Charakterzug, den er mit vielen Geizigen teilte: Obwohl er einem Gobsek oder Grandet gleich die Zahl der Sou in seiner Tasche kannte, von denen nur selten einer den Weg in seine Hand fand, war er doch in allen Angelegenheiten seiner Finanzen, die das Alltägliche übertrafen, außergewöhnlich naiv. Es war dem gewieften Bodensatz, den er beschäftigte, ein leichtes, den Bauherrn, der zwar misstrauisch, aber strohdumm war, zu betrügen. Der tägliche Griff in die Cassa und das Beiseitebringen und unter der Hand verkaufen von Material durch die Arbeiter funktionierten nicht zuletzt deshalb so gut, weil der Buchhalter und Prokurist, ein untersetzter, dabei jovialer Bösewicht, der auf den passenden Namen Escroq hörte, ein wahrer Meister der Bilanzfälschung war. Dass Varese nicht bankrott machte, lag zum einen an seiner Monopolstellung als Bauherr im Weichbild von Beauvais und an eben jenem schleimigen Escroq, der allzu unverschämte Betrügereien nicht duldete, da er seinen guten Posten behalten wollte, bis ihm seine ergaunerten Renten für einen bequemen Lebensabend in seinem eigenen Landgut genügten.

Obwohl Paul Escroq die Mitte seines Lebens längst überschritten hatte, kleidete er sich einem zweiten Lovelace gleich dandyhaft, roch nach Veilchen und trug den ganzen Tag peinlich saubergehaltene, senfgelbe Handschuhe. Aus dem gärenden Bodensatz des Volkes stammend – sein Vater war ein armer Lohnbauer und seine Mutter die Kräuterfrau in einem winzigen Dorf in der Gegend von Aurillac in der Auvergne gewesen – war er im Gegensatz zu seinem Brotherrn blitzgescheit und zielstrebig. Obwohl sein erbärmlicher Charakter von Bosheit zerfressen war und er, durch die Profession seiner Mutter in allen Arten von schnellen und langsamen Giften bewandert, vor keiner Schandtat zurückschreckte, spielte er aller Welt den gutmütigen, ein wenig beschränkten Bürger vor und bereicherte sich dabei mit der Geduld einer Spinne. Mit dieser biederen Maske hatte er sich bei Varese eingeschlichen und im Sinne, ihn nach dessen Ableben, das er bei Gelegenheit zu beschleunigen trachtete, zu beerben. René Carol erachtete er bei diesem Streben nicht als Konkurrenten, denn er hatte mit dem scharfen Blick, mit dem ein Verbrecher unfehlbar seinesgleichen erkennt, festgestellt, dass sie einander wie Hammer und Amboß ergänzten. Er bemerkte als einziger in dessen Ruhe die verwandte Seele, das gespannte Verharren eines Raubtieres, das geduldig sein Opfer fixiert. Escroq, der nie geheiratet hatte, da er das ganze weibliche Geschlecht verachtete und den Umgang mit Frauen insgesamt für eine schlechte Angewohnheit hielt, entstammte dem Sodom einer Tagelöhnerhütte, in der die widerwärtigsten Sünden gegen die Natur zum täglichen Leben gehörten und es nimmt nicht weiter Wunder, dass er sich zudem heftig in den knabenhaften, zarten und bleichen René versah. Er hatte aber diese Leidenschaft völlig in der Hand, da er für seine niederen Gelüste jugendliche, ihm völlig ergebene Diener hatte, Söhne von verarmten Bauern, denen er sie abkaufte und die er alle drei Jahre gegen neues Blut ersetzte. Bei René dachte er an das sprichwörtliche Wasser, das mit der Zeit den Stein höhlt. Was er nicht ahnen konnte, war, dass ihn René ebenfalls durchschaute und er, der er im Waisenhaus und nicht zuletzt in der Klosterschule schon allen Verwirrungen der Liebe begegnet war, gedachte, Escroqs heimliches Liebeswerben für seine Zwecke zu nutzen. Obwohl ihm der hässliche geschminkte Mann mit den fetten Lippen, aus deren Winkeln immer ein dünner Speichelfaden rann und der seinen schwammigen Leib in ein Korsett zwängte, mit jeder Faser seines Seins zuwider war, umgarnte er ihn wie eine hungrige Katze, wenn er auch bedacht war, keine Eindeutigkeit in seine Schmeicheleien zu legen. Er wollte den alten Lüstling bei Laune halten, der ihm als einziger in Vareses Kontor gefährlich werden konnte, wenn er ihn zu seinem Feind machte.

Der hellsichtige Gauner Escroq wusste freilich, dass er einen jungen Mann wie René durch nichts anderes an sich binden konnte als durch Geld und deshalb begann er – der er seinen Brotherren bislang zwar regelmäßig, aber in einem verantwortbaren Rahmen betrogen hatte – größere Summen zu hinterschlagen, die er gewinnbringend anlegte und deren Zinsen er in der Form von kleinen, aber durchweg exquisiten Geschenken an René weitergab. Als erstes richtete er ihm in der Nähe der Vareseschen Firma eine hübsche, kleine Wohnung ein und stellte ihm einen seiner abgelegten Diener zur Verfügung. Dann gewöhnte er ihn schnell an den Luxus von weißen, seidenen Handschuhen, Theaterbesuchen und, soweit es Renés zarte Gesundheit zuließ, an unterhaltsame Abendgesellschaften mit Zeitungsleuten und Soubretten. Dies ging ein knappes Jahr gut, bis der verwöhnte René, der tagsüber den Laufburschen und nächtens den Grafen spielte und bald seine Volljährigkeit erreichte, die Erniedrigungen im Kontor nicht mehr ertrug. In Varese, der noch immer glaubte, dass René sein Nachtlager im Kontor hatte, keimte zur gleichen Zeit erstmals ein dunkler, kaum fassbarer Verdacht, seine Geschäfte wären nicht ganz in der Ordnung, in der sie hätten sein sollten. Er wusste nichts besseres, als seine Mutmaßungen ausgerechnet seinem treuen Buchhalter anzuvertrauen, der ihn für den Moment beruhigen konnte, sich aber in die Ecke gedrängt fühlte und spürte, dass er eine endgültige Entscheidung zu treffen hatte. Schon in der darauffolgenden Woche erlitt Andoche Varese ein heftige Magenkolik, an der er nach einem schmerzhaften, aber kurzen Todeskampf verstarb. Der eigentlich mit einer eiseren Gesundheit ausgestattete Bauher überraschte alle in seiner Nähe ob seines plötzlichen Hinscheidens. Für Eingeweihte war noch erstaunlicher, dass der in geschäftlichen Dingen oft so törichte Geizhals ein von einem inzwischen leider ebenfalls verstorbenen, aber über jeden Verdacht erhabenen Pariser Notar beglaubigtes, einwandfreies Testament hinterließ, in dem er ausgerechnet seinen Pflegesohn René zum Erben der Firma und des beweglichen Gutes machte und auch nicht vergaß, Escroq mit einer ordentlichen Rente abzufinden. Obwohl sich bald wie ein summender und lästiger Mückenschwarm entfernte Verwandte von Varese einfanden, die lauthals Ansprüche auf das Erbe erhoben, war dieser letzte Wille nicht anfechtbar. Auch der von den Anwälten der enttäuschten Hinterbliebenen geäußerte Verdacht, vielleicht habe einer der beiden Nutznießer das Testament gefälscht oder gar dem so raschen und unerwarteten Tod des Baumeisters nachgeholfene, ließ sich, selbst als die Staatsanwaltschaft von Amiens direkte Ermittlungen anstellte, nicht erhärten.

René Carols Lage hatte sich also erneut ins Glückhafte gewendet, obgleich nicht Fortuna, sondern ein lüsterner Silen seine Verhältnisse beeinflusst hatte. Er sah sich plötzlich in die Rolle eines nicht unvermögenden Geschäftsmannes, der mit Ecroq einen hervorragenden Berater hatte, gestellt. Es lag nicht in Carols Charakter, sich von einem solch billigen Erfolg blenden zu lassen; denn die Wechselfälle seines jungen Lebens waren ein zwar bitterer, aber zu guter Lehrmeister gewesen, um ihn sich sicher fühlen zu lassen. Der willkommene Besitz der Baufirma und das kleine Vermögen seines Onkels, die ihm durch den auch ihn überraschenden, aber durchaus willkommenen Tod des Geizhalses in die Hände gefallen waren, sollten ihm nur die erste Stufe auf seiner Jakobsleiter in den Himmel seiner ehrgeizigen Ziele sein, nach denen sich sein unbeugsamer Wille verzehrte. Er wollte ein Staatsmann werden, der die Geschicke der Nationen prägt und die Millionen an Livres sein eigen nennt, die ihn in die Lage versetzten, sich über der Masse der Menschen zu erheben und den ihm angemessenen Lebensstil zu führen. Er wusste, dass seine Leiter für ein Waisenkind aus dem Volk sehr hoch war, begann sie aber sofort und ohne ein Zögern zu beschreiten. Er überließ Escroq, dem er hinlänglich vertrauen konnte, wenn er sich ab und an von ihm liebkosen ließ, die Geschäfte seiner Firma, in der es nun keine Betrügereien mehr gab und deren Reingewinne sich bei bleibendem Umsatz verdoppelten, nachdem sein Verwalter die alten Bürohilfen entließ und neue, ehrlichere anstellte. René selbst ging nach Paris, wo alle Träume – auch die Albgesichte – wahr werden; er wollte sich eine fundierte Ausbildung verschaffen und es gelang ihm, bei Jean-Jaques Vale-Noir, dem neben Grindot und dem jungen Viollet-le-Duc, dessen Stern gerade erst zu leuchten begann, größten Architekten unserer Zeit, in die Lehre zu kommen und bei ihm die Baukunst zu studieren. Gleichzeitig bot ihm seine Lehrzeit die Möglichkeit, sich endlich in einer Gesellschaft zu bewegen, der er sich längst zugehörig fühlte. Da er nie das Maß verlor, ihm seine gesundheitliche Verfassung verbot, eine Affäre mit einer Schauspielerin zu beginnen und sein Verstand, über den üblichen Rahmen hinaus beim Ekarté zu verlieren, reichte ihm die monatliche, übrigens nicht unwesentliche Geldzuweisung Escroqs für seine Auslagen. Er lernte Emile de Rastignac kennen, den zynischen Ziehsohn der beiden Titanen der Macht und des Kapitals, über diesen de Marsay und Nuncingen, der auf dem Sprung stand, Minister zu werden. Der Graf faszinierte ihn und Rastignac fand in René in vielerlei Beziehung sich selbst wieder, nahm ihn behutsam unter seine Fittiche und führte ihn in den Kreisen, in denen er selbst verkehrte, ein. Als René nach drei Jahren mit seinem Patent und einem überschwenglichen Empfehlungsschreiben Vale-Noirs in die Provinz heimkehrte, um durch seine fundierten Kenntnisse sein Baugeschäft zu erweitern und zum bedeutendsten im Umkreis von Beauvais und Amiens zu machen, hatte er im Sinn, die erste Gelegenheit zu nützen und zurück nach Paris zu gehen, um dann für immer in der einzigen Stadt zu bleiben, in der es sich zu leben lohnt. Diese Gelegenheit bot sich schnell, denn er hatte mit seinem Buchhalter, den er flugs zu seinem Partner machte und ihn damit noch fester an sich schmiedete, einen treuen Berater, der ein Genie war, wenn es darum ging, sich auf Kosten Dritter zu bereichern.

Als er, von Escroq gedrängt, zum ersten Mal an einem warmen Sonntag im Mai den Gottesdienst von St. Jacques besuchte und durch seine stoische Geduld die ausufernde Predigt des von ihm seit seines Aufenthalts im Orphelinat verhassten Abbés Rouge, der ihn häufig und grundlos geprügelt hatte, wie eine unvermeidbare Naturkatastrophe ertrug, wurde er, als wäre es nie anders gewesen, von den anständigen Bürgern, denen der Besitz von Geld auch dem von Moral und Ehre gleichkommt, als einer der ihren behandelt und er kehrte mit Einladungen zu einem Dutzend Teegesellschaften bei Familien mit unverheirateten Töchtern heim. Sein zärtlicher Mentor machte ihn auf den Fabrikanten d’Arçon aufmerksam, der einen Baugrund in Paris suche, um sich dort niederzulassen. Dessen Vermögen wurde auf über eine Million Franc geschätzt und er hatte als angenehme Daraufgabe noch eine schöne, wohlerzogene und allseits bewunderte Tochter. Dazu war d’Arçon in einem Maß beschränkt, das aus ihm ein ideales Schlachtlamm machte und es Wunder nahm und wohl nur an den wachsamen Augen seiner Frau lag, dass er noch nicht in die Hände von Betrügern, Anwälten und Bankiers gefallen war. Nachdem Escroq seinem Epheben die dem Leser bereits oben zur Kenntnis gebrachten Tatsachen des Papierfabrikanten mitgeteilt hatte, begann dieser sofort einen fleißigen Briefwechsel mit seinen Pariser Freunden und wurde ein regelmäßiger Gast von Madame d’Arçons Salon, wo er, obgleich er ihre Dummheit durchschaute, Interesse an der Tochter der Hauses zeigte und sich im übrigen – an die köstlichen Gesellschaften der Madame d’Espard gewöhnt – außerordentlich langweilte. Nach angemessener Frist wurde Hippolyte d’Arçon durch den Anwalt Derville ein Grund im respektablen Viertel d’Enfer so außergewöhnlich günstig angeboten, dass nur ein Narr oder ein sehr kluger Mann Bedenken getragen hätte, es zu erwerben und Arçon, der beides nicht war, griff ohne viel Überlegen zu. Ebenso schnell nahm er auch Carols Entwurf an, der gleichfalls der billigste war. Er forderte nur einen repräsentativen Balkon zur Straßenseite hin, auf dem er an Festtagen mit seiner Familie den Paraden auf der Rue d’Enfer beizuwohnen gedachte. René beugte sich lächelnd dem Wunsch des Fabrikanten, auch wenn er seinen genial schlichten und klerikalen Fassadenentwurf durch diesen Alkoven profanisieren musste.

Im Sommer des Jahres 1837 begannen schließlich die Ausschachtungsarbeiten und es zeigte sich dabei schnell, aus welchem Grund das Gelände so geheimnisvoll und günstig zum Verkauf angeboten worden war. Der Pferdefuß offenbarte sich, als die Arbeiter, die Carol, da sie billiger waren, aus Beauvais mitgebracht hatte, in geringer Tiefe im Erdreich auf menschliche Knochen und auf Grabsteine, die hebräische Inschriften trugen, stießen. Als dann prompt einer der Arbeiter beim entsetzten Zurückweichen vor diesen Überresten stürzte und sich den Fuß brach, verbreitete sich unter den abergläubischen Leuten schnell, dass man in einem aufgegebenen Friedhof grub und es Unglück bedeutete, auf diesem wahrscheinlich von einem Fluch belasteten Gelände weiterzuarbeiten. Die Verwünschungen und Versprechen der Vorarbeiter konnten sie ebenso wenig dazu bringen, ihre Schaufeln und Spitzhacken wiederaufzunehmen, wie der eilig herbeigerufene Carol, der ihnen anhand der jüdischen Jahreszahlen auf den Steinen vorrechnete, dass es es sich hier um die makaberen Reste eines alten jüdischen Friedhofs aus der Regierungszeit Ludwigs des XII. handelte, diese Begräbnisstätte also dreihundert Jahre alt und längst entweiht war. Obwohl er sich entrüstet gab, beglückwünschte sich Carol doch zu diesem für ihn glücklichen Fund, den er für seine Zwecke nutzen konnte. Er hatte zwar über seine etwas zwielichtigen Freunde den Grundstückserwerb eingefädelt, war aber über den Friedhofsfund selbst überrascht, wie wahrscheinlich alle außer dem ehemaligen Besitzer, der auch ihm im Verborgenen geblieben war. Trotzdem geriet Carol in einige Verlegenheit, als er dem sich die Haare raufenden Ehepaar d’Arçon erklären musste, warum die Arbeit schon nach fünf Tagen ruhte. Die Dame des Hauses – ruhig neben ihrem Mann auf einer im Kaiserreich modischen Chaiselongue sitzend – hörte sich die Vorbringungen des Architekten aufmerksam an, dann sagte sie:

»Ob ihre Leute arbeiten wollen oder nicht, kann nicht unsere Sorge sein, Monsieur Carol. Wir haben einen Vertrag und drängen auf seine Erfüllung. Sollte es aus welchen Gründen auch immer zu Verzögerungen kommen, sehen wir uns gezwungen, diese leidige Angelegenheit unseren Anwälten zu übergeben. Wir können einen Aufschub, auch im Anbetracht des nahenden Herbstes, nicht dulden.« Carol verbeugte sich und er erkannte von neuem, mit wem im Hause Arçon er zu verhandeln hatte. Er lächelte sehr höflich.

»Selbstverständlich werden die Arbeiten fortgesetzt. Ich sehe mich jedoch gezwungen, neue Arbeiter in Vertrag zu nehmen. Da ich nach diesem Vorfall in Beauvais keine Männer finden werde, muss ich sie mir in der Hauptstadt besorgen. Die Arbeiter in der Stadt sind weniger abergläubisch, lassen sich diese weltgewandte Gesinnung allerdings teuer bezahlen. In der Folge bin ich außerstande, meinen Voranschlag der Kosten aufrecht zu erhalten. Mein Partner, Monsieur Escroq, wird Ihnen in den nächsten Tagen eine neue Schätzung überbringen.« Madame d´Arçon und der schmale Architekt maßen sich. Sie warf ihm einen ihrer gefürchteten Medusenblicke zu, aber Carol hielt ihm gleichgültig stand. Sie wusste, dass der Architekt seine Rechnung in einem außerhalb seiner Verantwortung liegenden Fall wie diesem erhöhen konnte und Carol war sicher, die Arçons würden ihn nicht vom Vertrag entbinden, da sie trotz der unvermeidlichen Aufstockung keinen Bauherren finden konnten, der ihnen billiger ein repäsentatives Stadthaus errichtete.

Er verabschiedete sich mit dem Versprechen, seine Fristen einzuhalten, entließ unverzüglich alle Arbeiter, die nicht Willens waren, ihre abergläubische Furcht zu überwinden. Dann suchte er den Oberrabbiner der Pariser Gemeinde auf. Dort war nichts mehr von einem alten Friedhof in Enfer bekannt, aber nach einer ordentlichen Spende des Architekten, die er Arçon in Rechnung stellte und die die Armen der Gemeinde unterstützen sollte, war man schnell einig, wie man die leidige Sache ohne größere Affaire aus der Welt bringen konnte. Jüdische Arbeiter gruben in Anwesenheit mehrerer Rabbiner die sterblichen Überreste und Grabsteine ihrer vor so langer Zeit verstorbenen Volksgenossen aus und verbrachten sie in den Gemeindefriedhof im Cementaire de Montparnasse. Dann besorgte Carol neue Arbeiter aus Stadtvierteln, die weit von der Rue d’Enfer entfernt lagen. Damit schien die unerfreuliche Angelegenheit ausgestanden und die Arbeiten kamen zur Freude der Arçons gut voran. Escroqs neue Schätzung der Kosten belief sich nun auf glatt zweihunderttausend Franc, dafür hatte er sich von den gewissenhaften Provinzanwälten von Hippolyte d’Arçon einen Vertragszusatz abringen lassen, nach dem er diese Zahl um höchstens zehn vom Hundert überschreiten konnte.

Madame Helga war damit zufrieden und ihre Aufmerksamkeit ließ nach. Vielleicht wäre sie nachdenklich geworden, wenn sie geahnt hätte, dass die Partner Carol und Escroq in der nächsten Zeit fleißig seltsame Kontakte knüpften. Der Architekt reiste mehrmals nach Angoulême, wo er in bestem Einvernehmen mit dem großen und dem dicken Cointet, jenen hartnäckigsten und böswilligsten Konkurrenten der d’Arçons, zusammentraf. Und Escroq wurde in etwas zweifelhaften Etablissements häufig in Henri Michots Begleitung gesehen. Der Papierfabrikant und seine Frau ahnten jedoch nicht, dass sich ein Gewitter am Horizont zusammenzog, das den noch wolkenlosen Himmel ihrer bürgerlichen Existenz bald verdüstern sollte. Sie wussten nicht, dass sie der Mittelpunkt einer Intrige waren und erst ein leichtes Vorgeplänkel der Schlacht um ihr Vermögen geschlagen hatten.’«

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[Dritter und vorerst letzter Abschnitt meiner ruchlosen Balzac-Kopie. In der nächsten Woche geht “Nutzlose Menschen” mit dem 5. Kapitel weiter. Das 4. Kapitel habe ich in die E-Book-Leseprobe eingepflegt. Ich weiß, ich wiederhole mich, aber es ist schon schade, dass es so überhaupt keine Kommentare zu diesem Roman, den ich für meinen besten halte, kommen. Aber wahrscheinlich erwarte ich zu viel – Nikolaus Klammer.]

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