Nutzlose Menschen – Roman (Teil VIERZEHN)

Die Ehe der beiden wurde dennoch glücklich, da sie einander in seltener Weise ergänzten und sich die Eheleute durch Monsieur Hippolytes strengen Tagesplan selten sahen. Zudem fällt auch die größte Hässlichkeit nach einer gewissen Zeit der Gewöhnung anheim. Für ihre Zuneigung spricht auch beider Tochter Simone, die 1819 das Licht der Welt erblickte und durch eine seltsame Laune der Natur eine Schönheit zu werden versprach. Madame Arçon steckte all ihre Energie in die Erneuerung der Papiermühle ihres Mannes, den sie dadurch reich machte, und anschließend in die Erziehung ihrer Tochter. Fast schien es, als hätte sie die ehrgeizigen Träume ihrer Jugend vergessen und obgleich sie realistisch genug war, um einzusehen, dass ihr in der Provinz selbst kein weiterer gesellschaftlicher Aufstieg über das Großbürgertum von Beauvais hinaus vergönnt sein würde, da sie ihre einzige Trumpfkarte, ihren phlegmatischen Ehemann, völlig ausgereizt hatte, wollte sie nun ihrer Tochter und damit natürlich auch sich selbst den Weg in die höchsten Kreise ebnen. Es sollte Simone gelingen, was Madame Helga ob ihrer Hässlichkeit verwehrt geblieben war; sie würde den würgenden Gestank der Papierfabrik abstreifen, die Salons des Faubourg Saint-Germain sollten sich vor ihrer Tochter verneigen und der Schwiegersohn würde zumindest ein Graf sein.

Madame Helgas erster Schritt war, einen Schreiber der Anwälte ihres Mannes eruieren zu lassen, ob sich nicht unter den zahlreichen Vorfahren von Monsieur Hippolyte einer fand, der einen klangvollen Titel getragen hatte. Die Aussicht auf eine der Höhe des Adels angemessene Belohnung ließ den gerissenen jungen Mann schnell fündig werden. Er entdeckte das Wappen des Chevaliers und Comtes von Arcionay, der allerdings nach den Urkunden im Jahre des Herrn 1356 nach der verlustreichen Schlacht bei Maupertuis im Feldlazarett ohne männlichen Erben verschieden war. Dieses unbedeutende Manko hinderte die Madame Arçon nicht, sich von diesem Zeitpunkt an zum Amüsement ihres Gatten d’Arçon zu nennen und das Wappen derer von Arcionay von einem geschickten Steinmetz über dem Entrée ihres Hauses anbringen zu lassen. Monsieur Hippolyte kümmerte sich nicht weiter um diese, wie er meinte, kleine Marotte seiner Frau und gewöhnte sich im Verlaufe der Jahre selbst an, Verträge mit d’Arçon zu zeichnen. Nachdem nun die Mademoiselle Simone d’Arçon einen wohlklingenden Namen führte, musste sie auch angemessen erzogen werden und Madame Helga legte ihre ganze Sorgfalt und Strenge in diese neue Aufgabe. Da sie sich ihrer provinziellen Manieren und Kenntnisse nur allzu sehr bewusst war, adlige Lebensart nur aus zumeist schlechten Büchern kannte, ließ sie im Quotidienne nach einer Erzieherin inserieren, der sie bei entsprechender Befähigung ein nicht unbedeutendes Salär in Aussicht stellte. Schließlich gelang es ihr nach einer längeren Korrespondenz, Madame von Wzerenski aus dem Umkreis des Fürsten Adam Georg Czartoryski zu gewinnen. Sie war eine adlige, aber völlig verarmte Exilpolin, die als Gouvernante hochgeachtet und bereits an der Erziehung der Töchter der Granvilles und der Navarreins mitgewirkt hatte. Diese durch und durch royalistische ältere Dame hatte in den zwar reichen, jedoch allzu bürgerlichen Haushalt des Papierfabrikanten nur gelockt werden können, weil sie sich durch die dritte Liquidation des Bankhauses Nuncingen ruiniert hatte und ihr Madame Helga ein Gehalt versprach, das sie ihre königstreuen Prinzipien vergessen machen half.

Hätte Arçon die tatsächlichen Kosten dieses Schrittes, die sich, da noch zusätzlich ein Mädchen für Simone in Anstellung kam, auf jährlich fünfzehntausend Franc beliefen, erfahren, wären ihm die Haare zu Berge gestanden und er hätte sich mit aller Vehemenz, zu der er in seltenen Fällen fähig war, gegen diesen, wie er meinte, überflüssigen Luxus verwahrt. Madame Helga wusste, dass sie bei ihrem oft wie Wachs formbaren Mann keine Einwilligung in diesen Personaleinkauf erreichen konnte, wenn sie ihm die Wahrheit sagte, denn es gab gewisse Dinge, bei denen an seine Zustimmung nicht zu denken war und er sich, je mehr sie in ihn drang, um so hartnäckiger ihren Wünschen verschloss. Nur zu genau konnte sie sich daran erinnern, wie er sich im ersten Jahr der gemeinsamen Ehe geweigert hatte, das Boudoir nach ihren Vorstellungen von Schinner gestalten zu lassen. Es war das erste Mal, dass sie bei ihrem Gatten auf Widerstand getroffen war und sie hatte begreifen müssen, ein von Hippolytes Arçon einmal ausgesprochenes Nein war dann endgültiges, wenn es Ausgaben betraf, die über seinen gesellschaftlichen Status hinausreichten. Er ließ die Räume seiner Frau zwar ausmalen, beauftragte dazu allerdings einen billigen, weil unbedeutenden Genremaler aus Amiens, dessen Vorliebe für Schwäne und wohlbeleibte Nymphen Madame Helga so lange Seufzer entlockte, bis sich ihre Augen an den scheußlichen Anblick gewöhnt hatten. Das Engagement der Madame von Wzerenski hätte der Hausherr also zu diesen Kosten niemals akzeptiert und deshalb blieb der Madame Helga nichts anderes übrig, als ihren Gatten zu belügen und einen Teil des vereinbarten Gehaltes aus dem eigenen Portefeuille zu bezahlen. Sie veräußerte deshalb heimlich den größten Teil ihres von der Mutter ererbten Familienschmucks, der ihr allerdings statt der erhofften einhunderttausend Franc nur fünfundsechzigtausend erbrachte, die aber ihrem Vorhaben vollkommen genügten. Ihrem Mann gestand sie anstelle der vereinbarten zwölftausend Franc für die Erzieherin nur die Hälfte ein, was ihm noch immer überteuert erschien, die er aber ohne Murren bezahlte, als sie ihm glaubhaft versicherte, wie günstig dieses Salär für eine angesehene Erzieherin aus Paris sei. Es war der erste Sündenfall von Madame Helga, sollte aber nicht der einzige bleiben. Noch ein weiteres Versprechen gegenüber der Polin – nämlich so bald als möglich nach Paris umzusiedeln – wurde dem Gatten unterschlagen. Er sollte vorsichtig und langsam darauf vorbereitet werden.

Madame von Wzerenski machte der Dame des Hauses bald deutlich, dass es mit einer guten Erziehung Simones allein nicht getan war, es dringend von Nöten war, einen Salon zu führen, in dem die Tochter sich bewegen und erproben konnte. Mit diesem Wunsch sprach sie der Madame Arçon aus der Seele, hatte sie doch vor geraumer Zeit selbst vergeblich versucht, eine vornehme Abendgesellschaft zu gründen. Es war ihr nicht gelungen, da die gute Gesellschaft von Beauvais unter sich blieb und sich allabendlich bei der Gräfin de Gignaux traf. Mit der adligen Polin hatte sie allerdings eine Person an der Seite, die einen neuerlichen Versuch lohnend erscheinen ließ. Zuerst wurden Schritte unternommen, Abbé Rouge, den durchaus weltgewandten Geistlichen der Kathedrale von St. Jacques, der auch im Salon der Gräfin verkehrte, zu gewinnen. Madame Helga ließ deshalb ein Wohltätigkeitsball zugunsten der Armen der Gemeinde ausrichten. Die Aussicht auf eine reiche Kollekte verlockte den Abbé und er brachte einige angesehene Persönlichkeiten in Monsieur Arçons Haus. Unter ihnen war sogar die in äußerster Zurückgezogenheit lebende, altruistische Mademoiselle Victorine Taillefer, eine hübsche und gebildete, aber sehr melancholische und schweigsame Tochter aus der ersten Ehe des kürzlich verstorbenen Bankiers Jean-Frédéric Taillefer, dessen beachtliches Vermögen sie geerbt hatte. Der Ball war ein Erfolg, der den Papierfabrikanten eine Jahresrente kostete; er bezahlte allerdings bereitwillig, weil es seinem Ansehen und seiner Kreditwürdigkeit nutzte, wenn die gute Gesellschaft in seinem Haus verkehrte. In der darauffolgenden Zeit lief der Salon gut an, bald war jedoch seine Neuheit abgenutzt und nicht zuletzt wegen des entsetzlichen, an einen Höllenschlund erinnernden Gestankes der Papierfabrikation, an den sich nur gewöhnen konnte, wer sein Leben in ihrer Nähe verbrachte, kehrte man zur Gräfin de Gignaux zurück, deren Räumlichkeiten über Wochen verwaist gewesen waren. Es blieben der Madame Helga, die in ihrem Hause täglich Räucherwerk abbrennen ließ, allerdings eine Handvoll Leute; zumeist neureiche Bürger gleich ihr, die bei der Gräfin keinen Einlass fanden, sporadisch auch der Abbé und ein paar junge Männer, die sich in die bereits mit sechzehn Jahren zur Schönheit gereiften Tochter des Hauses versehen hatten. Unter ihnen war der Sohn des Notars Bichet, der ernste, schwindsüchtige Architekt und Bauherr René Carol und, als besonderes Schmuckstück der Abendgesellschaft, der junge Baron de Ravoil, der den Glanz des Adels in das Haus der Arçons brachte.

Die Jahre vergingen und unter der Hand ihrer Gouvernante, die beständig ein parfümiertes Tuch oder ein Riechfläschchen in den Händen hielt, entwickelte sich Mademoiselle Simone zu einer Schönheit mit den tadellosen Manieren einer Adligen. Der Ruf ihrer Schönheit verbreitete sich schnell in der Provinz. Mademoiselle Simone hatte zwar die Größe ihrer Mutter geerbt, trug diese allerdings aufrecht und stolz; ihr flammend rotes Haar, ihr bleicher Teint, der wundervolle Schwung ihrer Taille, all diese äußerliche Makellosigkeit war gepaart mit vollendeten Umgangsformen, die sie mit spielerischer Leichtigkeit trug. Diese glänzende Hülle machte aus ihr ein Juwel, das nur der leichte Einschluss von Arroganz ein wenig trübte. Dieser jedoch war verständlich, wenn man ins Urteil nahm, wie sehr das Mädchen ihre Altersgenossinnen in und um Beauvais übertraf und wie sehr sie von allen Seiten behütet und gehegt wurde. Zudem wurden ihr die Erfolge im Salon der Mutter allzu einfach gemacht. Hinter jener perfekten Hülle, die Mademoiselle Simone zur Schau trug, verbarg sich jedoch – Nichts. Sie war eine leere, stumpfe Maske, dumm wie eine Magd und dabei eingebildet, war sie doch der vielen jungen Mädchen gemeinsamen Ansicht, dass niemandes Sphäre erhaben genug sei, die Vortrefflichkeit ihrer Seele begreifen zu können. Davon wusste allerdings nur Madame von Wzerenski, die ihren Schützling so vollkommen mit auswendig gelernten Umgangsformen und immer gültigen Konversationsbrocken ausgestattet hatte, dass sie sicher sein konnte, die junge Frau würde selbst einen erfahrenen Lebemann aus den Salons des Faubourg Saint-Germain für die Dauer einer köstlichen Abendunterhaltung bezaubern und täuschen können. Viel länger jedoch hätte diese Wirkung des schönen Scheins nicht angehalten, denn Mademoiselle Simones Repertoire geistvoller Repliken und Bonmots war begrenzt. Außer der Polin erahnte nur die Mutter etwas von der ererbten köhlerhaften Borniertheit der Tochter, die diese aber nicht wahrhaben wollte. Der Rest ihres Umganges, der Vater eingeschlossen, war von dem schönen Mädchen hingerissen. Er verzieh ihr deshalb die immer häufiger und teurer werdenden Rechnungen der Schneider, Hutmacher und Dekorateure, die ihn zwangen, einhundertfünfzigtausend Franc seines verzinsten Kapitals ihrer Schönheit zu opfern. Dies ließ seine jährliche Rente auf einunddreißigtausend Franc schmelzen, die damit jedoch noch immer weit über seinen Ausgaben lag und seinen Reichtum mehrte.

Solcherart war der Stand der Dinge, als es Madame Helga für dringend an der Zeit befand, ihren Mann auf den Plan, nach Paris umzusiedeln, vorzubereiten. Da die Tausendzahl der weiblichen Finten, Schmeicheleien und Einflüsterungen den Leser ermüden würden und er sie, so er denn vermählt ist, sicher schon aus eigener Anschauung zur Genüge kennt, soll im Interesse des Fortgangs der Geschichte nur erwähnt werden, dass die gemeinsamen Einredungen von Mutter, Tochter und Erzieherin nach einem hartnäckigen, über ein ganzes Jahr hinweg geführten Kampf endlich von Erfolg gekrönt waren. Monsieur Arçon ergab sich gleich einer lang belagerten Festung und begann, sich in den guten Vierteln der Hauptstadt nach einem Grund umzusehen. Dies geschah zu einer Zeit, in der die Gewinne aus der Papierfabrik spärlicher flossen, da die Konkurrenz Monsieur Hippolytes technischen Vorsprung längst aufgeholt hatte und teilweise mit moderneren Trockenwalzenmaschinen produzieren konnte. Der Fabrikant hatte eigentlich im Sinne gehabt, das angesparte Geld in bestem kapitalistischen Sinne erneut zu investieren; ein dringend notwendiger Schritt, wenn er wettbewerbsfähig bleiben wollte. Deshalb wehrte er sich tapfer gegen den Bau eines Palais in Paris, war aber, da ihn der Gedanke, in der Hauptstadt zu residieren, schmeichelte, viel zu nachgiebig, um auf seinen Plänen zu beharren. Er war aber fest entschlossen, den Bau so billig als irgend möglich auszuführen. Da kam ihm jenes Grundstück in Enfer wie ein seltener Glücksfall, da es nicht nur günstig gelegen, sondern auch ungewöhnlich billig angeboten wurde. Für die insgesamt sechsundfünfzigtausend Franc, die ihn das Gelände kostete, musste er nicht einmal seine stillen Reserven angreifen. Dabei übersah er gerne, dass der bisherige Besitzer nur durch eine unleserliche Unterschrift auf dem Kaufvertrag und durch ein Konsortium unter der Federführung des Bankhauses Keller vertreten wurde.

Monsieur Arçon wollte selbstverständlich so bald als möglich zu bauen beginnen; er erhielt auch schnell durch freundliche Zuwendungen an die zuständigen Beamten die erforderlichen Genehmigungen der Ämter, musste dann allerdings entsetzt feststellen, dass die Errichtung eines repräsentativen Hauses in Paris nach seinen Vorstellungen seine finanziellen Mittel deutlich überstieg. Lange suchte er nach einem Architekten, doch die bekannten wie Grindot oder Vale-Noir schienen ihm nicht nur nicht bezahlbar, sondern ihre Entwürfe auch zu gewagt. Die Schätzungen der Pariser Baufirmen über die Kosten hätten Monsieur Arçon zudem fast dazu gebracht, von seinen Plänen Abstand zu nehmen, wenn ihm nicht seine Frau die Lösung seiner Probleme in einer Person präsentiert hätte, mit der er mehrmals in der Woche in den Soireen seiner Gattin zusammentraf, ohne sich jemals weiters Gedanken über sie gemacht zu haben. Es war René Carol, Architekt und Bauherr in einer Person, der Monsieur Hippolyte anbot, sein Pariser Palais für einhundertfünfzigtausend Franc zu bauen und dem Fabrikanten nach kurzer Zeit einen Grundriss präsentierte, der in seiner großzügigen Schlichtheit gefiel. Zwar lag der Kostenvoranschlag noch immer weit über Arçons Vorstellungen, wurde aber akzeptiert, weil kein günstigeres Angebot gemacht werden würde.

Weshalb hatte Carol das Kartell der Bauunternehmer unterlaufen und Arçon angeboten, sein Haus so billig zu bauen, dass er selbst kaum mit einem Gewinn rechnen konnte? Madame Helga glaubte den Grund in der Verliebtheit des jungen Mannes in ihre Tochter zu entdecken, dabei übersah sie vollkommen, dass der trockene und scharfsinnige Carol zu solch romantischem Gefühl nicht fähig war. Die einzige Liebe seines Lebens war die zu sich selbst und zu Macht und Reichtum, zu Dingen also, die ihm bislang im gewünschten Umfang verwehrt geblieben, auf die er aber ein Anrecht verspürte und zu denen er mit Hilfe der Arçons gelangen wollte. Monsieur René hatte seine erste Jugend im Waisenhaus von St. Jacques zubringen müssen, nachdem seine Eltern, die ihm keinerlei Vermögen hinterließen, und auch sämtliche Geschwister dem Fleckfieber zum Opfer gefallen waren. Nur der ungezügelten Lebensenergie des vierjährigen Kindes war es möglich, dass es als Einziges von seiner Familie dieser heimtückischen Seuche widerstand, nach dreimonatigem Krankenlager genas und – da es offensichtlich keine lebenden Verwandten mehr gab – der öffentlichen Fürsorge überstellt wurde. Es erholte sich aber nie mehr vollständig von den Strapazen und Erschütterungen und erwuchs zu einem stets kränklichen, bleichen und schwindsüchtig wirkenden Mann, den zusätzlich durch die schwere Krankheit seiner Kindheit einige hässliche Narben entstellten. Aufrecht erhielt ihn offenbar nur seine spartanische, in strenge Regeln gefasste Lebensführung, der er seinen schwächlichen, halb verblichenen Körper unterwarf und der eiserne Lebenswille seiner Seele, die auch dem überzeugtesten Materialisten neuerer philosophischer Couleur zu denken gegeben hätte. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr war er ein Kind ohne Zukunft, nur durch die zweifelhafte Barmherzigkeit des Orphelinats existierend, unter dessen Knute er ein schweres Leben zu führen gezwungen war. An keinem Ort tritt das Naturgesetz deutlicher und unverhohlener zutage, gibt es weniger Mitleiden mit der geschundenen Kreatur, als vor den kargen Suppentöpfen eines Waisenhauses, in dem Kinder schon in früher Jugend zu härtester Arbeit gezwungen werden und der Tod ein häufiger Gast ist. Körperlich nicht nur den Altersgenossen, sondern auch den meisten der Jüngeren unterlegen, deshalb beständig zurückgesetzt und genarrt, tägliches Opfer schwerer Prügel durch Leidensgenossen und Erzieher, musste Carols scharfer Verstand entarten, ihn hinterhältig und tückisch machen. Sicher wäre aus ihm, wäre sein Leben im Bodensatz der Gesellschaft in dieser Weise fortgeschritten, ein Fouché des Verbrechens geworden. Aber kurz vor seinem Eintritt ins Jünglingsalter kam es zu einer plötzlichen, glückhaften Wende.

Der Bruder seines Vaters war Oberst in des Kaisers Reiterarmee gewesen und hatte wie viele glühende Verehrer Bonapartes nach der Katastrophe von Waterloo enttäuscht der ihm fremd gewordenen Heimat den Rücken zugekehrt und war in die Neue Welt gezogen, wo er bald als verschollen galt. Tatsächlich war er aber durch Handelsgeschäfte in der rauen Wildnis zu einem bescheidenen Vermögen gekommen, das ihm einen ruhigen Lebensabend versprach. Die Zeit hatte seine Wunden heilen lassen und er kam aus dem Staate Marengo nach Frankreich zurück, um die Familie wiederzusehen. Es war eine wahrhaft traurige Heimkehr. Den Obersten Carol erwarteten nur ungepflegte Gräber auf dem Gottesacker von Beauvais und ein nie gesehener, völlig verwahrloster Neffe, der dem Onkel bei der ersten Begegnung in die Hand biss und ihm bei dieser Gelegenheit den Siegelring vom Finger stahl. Dennoch nahm er seinen einzigen lebenden Anverwandten unverzüglich aus dem Orpelinat in seinen Junggesellenhaushalt, den er in Beauvais gründete. Seine Haushälterin und er kümmerten sich mit rührender Sorgfalt um den Jungen, den sie nach vielen Rückschlägen halbwegs zähmten und auf die Jesuitenschule in Amiens schickten. René wuchs dort zu einem blassen, unscheinbaren Jüngling heran, der offenbar die Wolfsnatur seiner Kindheit vergessen hatte und im Gegenteil den Eindruck eines Menschen machte, von dem man sagt, es flösse ihm statt Blut kaltes Öl durch die Adern. Keine Leidenschaft schien ihn aufzuwühlen, nur wenigen, meist seltsamen Dingen wie Alchemie oder Mesmerismus vermochte er über kurz Interesse entgegenzubringen. Obgleich er der Beste seines Jahrgangs war und einem trockenen Schwamm gleich allen unterrichteten Stoff in nachgerade unheimlicher Geschwindigkeit in sich sog, war sein Lerneifer ausschließlich auf das von den Erziehern geforderte Maß beschränkt. Nie beteiligte er sich an den Spielen oder Unterhaltungen seiner Altersgenossen; er sonderte sich ab und verbrachte lange Stunden seiner freien Tage sitzend und sinnierend auf einer Fensterbank. Wohin ihn seine Gedanken führten, offenbarte René niemandem, nicht einmal seinem Onkel, der ihn von allen Menschen am nächsten stand und zu dem er im Verlaufe der Jahre ein gewisses Vertrauen gefunden hatte. Den Lehrern der Klosterschule war der junge Mann eingedenk der Tatsache, wie tief ein solch stilles Wasser gründen muss, nicht recht geheuer und mancher von ihnen dachte bei sich, er würde wohl eines Tages entweder als berühmter Staatsmann oder auf der Guillotine enden. Und in diese Richtung gingen die Tagträume des kühlen jungen Mannes tatsächlich. Er erhoffte sich eine Karriere, die ihn ohne Acht der Mittel zur Macht bringen würde. Das Frankreich des Bürgerkönigs, dessen Motto »Bereichert Euch!« auch das seine hätte sein können, schien ihm ideal dafür geeignet, einen gewissenlosen Mann wie ihn nach oben zu bringen. Ein Vorbild war ihm dabei Henri de Marsay, dessen Karriere René bis zu dessen frühen Tod im Jahre 1834 aufmerksam verfolgte und bewunderte.

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