»Es liegt auf der Hand. Genau so ist es gekommen. Er hat die Tasche nicht vergessen. Das passt nicht zu seinem Charakter, wie er sich mir darstellt. Er hat die Mappe absichtlich an einen so auffälligen Ort gelegt, damit ich sie finden musste. Selbstverständlich würde ich das hässliche Ding in die Hand nehmen, denn auf dem Sessel ist es ja im Weg. Dass sich die Tasche dabei öffnen und die Papiere herausfallen würden, das hatte er so vorbereitet. Ich bin sicher, die beiden Mappen lagen mit der Öffnung nach unten in ihr. Niemand steckt einen Ordner mit losen Blättern auf diese Weise in eine noch dazu unverschlossene Tasche, die, wenn man sie am Griff hebt, zwangsläufig aufklappen muss!«
Sie holte Luft und sah mit Befriedigung, dass Clara ihr aufmerksam zuhörte. Plötzlich sprudelte ihr Geist von Verdächtigungen über, ganz, als wäre ein Tor geöffnet und sie hatte Mühe, alles zu fassen und mitzuteilen.
»Schau dir doch nur die Seiten an: So durcheinander, wie sie sind, will ich vermuten, dass Klammer sie bereits vermischt in die Ordner gelegt hat, damit wir gezwungen sind, sie aufmerksam Blatt für Blatt einzusammeln und durchzugehen. Wir mussten dabei zweimal auf die Seite 4 stoßen und damit auf seinen Text über Benjamin. Das ist doch so sicher wie das Amen in der Kirche. Der Name Sapher steht dort so oft, dass er uns auffallen muss. Der einzige Schluss: Er hat das alles vorbereitet, weil wir die Seite lesen sollten«. sagte sie immer atemloser und war selbst über ihre scharfsinnigen Schlussfolgerungen erstaunt, von denen sie allerdings nicht wusste, wohin sie sie noch führen würden.
»Du machst mich sprachlos«, sagte Clara und ihr waren ihre Zweifel anzuhören. »Glaubst du denn das alles wirklich?«
»Nochmal: Es liegt auf der Hand. Das ist der einzige logische Schluss.« Gittas Ton wurde gereizter. Sie beugte sich nach vorn. »Wir sind ihm auf den Leim gekrochen.« fügte sie mit einer dramatischen, resoluten Geste hinzu, die sie einem Darsteller in dem Bauerntheater, in dem sie mitwirkte, abgeschaut hatte.
Dieser Tonfall ihrer Freundin erheiterte Clara. Sie war ganz und gar nicht von der zwingenden Logik von Gittas Gedankengängen überzeugt. Über ihr Gesicht huschte die kurze Andeutung eines belustigten Lächelns, die jedoch sofort wieder verschwand, als sie bemerkte, wie wichtig Gitta ihre Anschuldigungen waren. Sie winkte ab und drückte sich wegen ihrer Rückenschmerzen langsam in die Lehne des Sessels. Hoffentlich kam sie später ohne Hilfe aus dem Möbel.
»Es hat also doch etwas genutzt, dass du während Mathe immer Krimis unter der Schulbank gelesen hast. Es stellt sich allerdings die Frage nach dem Motiv, mein lieber Holmes. Was bezweckt Moriarty aka Klammer mit seinem Spiel, das er für dich und Benjamin inszeniert hat?«, fragte sie und konnte sich einen ironischen Ton nicht verkneifen. Gitta fand, Clara hätte in dieser Situation etwas mehr Ernst besser zu Gesicht gestanden. Doch obwohl ihr bereits eine scharfe, verletzende Antwort auf den Lippen lag, zwang sie sich zur Ruhe.
»Ich habe auch keine Ahnung, was er letztlich mit dem ganzen Aufwand bezweckt. Aber es behagt mir nicht, eine Figur in einem Spiel zu sein, dessen Regeln ich nicht kenne«, seufzte sie.
Sie verschwieg dabei ihre Vermutung, der ihrer Auffassung nach schwule Klammer könnte vielleicht planen, den durchaus knabenhaften und schüchternen Benjamin zu verführen. Vielleicht wollte er deshalb einen Keil zwischen sie und ihren Mann treiben. Auch wenn das weit hergeholt erschien und Benjamin nie Interesse am eigenen Geschlecht zeigte, befürchtete Gitta doch, sein charismatischer Vorgesetzter könnte ihn beeinflussen. Diesen Verdacht konnte sie jedoch Clara nicht mitteilen, denn sie war sicher, dass ihre Freundin sie nur auslachen würde.
»Aber eines ist mir klar«, fuhr sie deshalb fort, »was er mit Benjamin vor hat, ist sicher nicht zu seinem Nutzen. Auf der anderen Seite weiß ich allerdings auch nicht, wie er ihm heute Abend schaden könnte. Das alles sagt mir nur mein Gefühl. Es ängstigt mich.«
»Und? Was willst du jetzt machen – aufspringen und hinter den beiden her rennen, um deinen Mann aus den Klauen des Unholdes befreien?«
»Ach, was!«, erwiderte Gitta gereizt, obwohl sie genau dies im Sinn hatte. Nun war es an Clara, ihren Scharfsinn unter Beweis zu stellen.
»Eben. Lass dir von deinem Watson eines sagen: Das Gefühl irrt meist und du siehst die Sache viel zu dramatisch. Das Leben ist keine soap opera und kein Lavendelbett.« Sie spielte auf den Titel ihres ersten Romans an, mit dem sie bekannt geworden war. »Der – das gebe ich gerne zu – seltsame Text von Klammer ist aus seinem Zusammenhang gerissen und mir war vieles unverständlich. Dir sicher auch. Das ist ein typischer ‘Schaut-her,-wie-intelligent-ich-bin’- Text. Aber ich denke, er hat nur das verrätselt ausgedrückt, was jeder Vorgesetzte über die Leute unter ihm denkt: Sie sind Spielzeuge für ihn, die er zu seinen Zwecken beliebig nutzen kann – das ist der Zynismus der Mächtigen. Es ist wahr: Klammer hat nun wirklich keine hohe Meinung von deinem Mann. Aber da kann ich ihm nur …« Sie stockte und beendete den Satz lieber nicht. »Aber Klammer hat nicht geschrieben, er wolle ihm irgendwie will. Das unterstellst du ihm, weil er dir Furcht einflößt. Wenn wir aber doch davon ausgehen, dass du recht hast und diese ominöse Seite nicht nur durch einen Zufall in unsere Finger geriet …« Gitta schüttelte energisch den Kopf. »… wenn wir das also vermuten, dann bleibt doch die Frage, warum er wollte, dass du von seinen Plänen informiert bist und er uns dann diese Information auf so umständliche Weise zukommen ließ. Und wenn er tatsächlich so genau plant, dann muss er auch damit rechnen,durchschaut zu werden. Nein, das ist mir alles zu abenteuerlich. Nochmal: Dies ist kein Roman, sondern das Leben«, sagte Clara wegwerfend. Dabei warf sie einen neugierigen Blick auf die Tasche Klammers.
Gitta nickte, wirkte allerdings noch lange nicht überzeugt.
»Ich weiß nicht, ob ich mich verrannt habe«, erwiderte sie zögernd. »Wahrscheinlich sehe ich alles zu dramatisch. Vielleicht will Klammer genau diesen Zweifel in mir wecken. Aber bei einem bin ich mir sicher: In der Tasche ist noch eine dritte Mappe. Sie hätte ebenfalls herausfallen müssen, tat es aber nicht. Ich denke nicht, dass es an mir lag. Dazu habe ich zu langsam reagiert. Ich glaube, Klammer will, dass wir sie uns ebenfalls ansehen. Vielleicht wissen wir dann auch mehr.«
Clara richtete sich mit einem Ruck auf. Ihr fuhr zwar ein scharfer Schmerz wie ein Messerstich in die Lendenwirbel, aber die gleiche Bewegung hätte sie auf keinen Fall langsamer ausführen können, ohne ächzend zurück in die Lehne zu sinken. Sie kniff die Augen zusammen und als sie sie wieder öffnete, hing eine Träne zwischen ihren Wimpern. Gitta, die wusste, dass ihre Freundin nicht bemitleidet werden wollte, übersah bewusst das Leid in ihrem Gesicht.
»Ich bin sehr neugierig«, sagte Clara mit heiserer Stimme und versuchte den Schmerz mit einem gequälten Lächeln zu überspielen. Gitta holte die Mappe aus Klammers Tasche. Es war ein Heftordner, in dem etwa vierzig Seiten steckten. Sie nahm die Mappe mit Daumen und Zeigefinger und hob sie an der Falz in die Luft, wackelte mit ihr.
»Siehst du, da kann nichts herausfallen«, stellte sie triumphierend fest. Diese Vorführung schien ihr die Beweiskette für die Unredlichkeit von Saphers Vorgesetzten abzuschließen. Clara nahm ihr achselzuckend den Ordner aus der Hand und öffnete ihn, holte die Blätter aus ihrer durchsichtigen Prospekthülle und legte sie sich auf die Knie. Auf dem Umschlag stand in der Handschrift des Doktors:
»Familienbande – Eine veraltete Novelle von Dr. Nikolaus H. Klammer« Sie las den Titel laut und steckte die Seite anschließend unter den Stapel. Die nächsten Blätter waren maschinengeschrieben. Gitta fasste sich überrascht an den Kopf. Clara, die sich heimlich dazu gratulierte, weil sie so etwas Ähnliches schon vermutet hatte, blies trotzdem kurz die Backen auf und ließ einen langgezogenen Pfiff hören.
»So, so, eine Novelle hat der Herr geschrieben. Da bin ich jetzt aber gespannt. Damit löst sich ja einiges von dem großen Geheimnis auf. Unserem Herrn Klammer ist sein Beamtenleben nicht aufregend genug und er versucht sich in der Kunst. Ich habe so etwas schon länger vermutet. Das erklärt, weshalb ich ihm so häufig auf literarischen Veranstaltungen begegne.«
»Was soll denn damit erklärt sein?«, warf Gitta trotzig ein.
»Stell dich nicht dumm. Der feine Herr Doktor hat literarische Ambitionen. Siehst du denn nicht, dass sich dadurch sein seltsamer Text über Benjamin als ein Bruchstück eines harmlosen Essays erweist? Er schreibt Bücher und die Personen, die er in ihnen auftauchen lässt, holt er sich aus dem wirklichen Leben. Ich gebe zu, ich mache das auch nicht anders. Deshalb beschäftigt er sich mit Benjamin. Er will über ihn schreiben oder hat es schon getan. Ich glaube, diese ominöse Seite war nichts weiter als ein Ausschnitt aus seiner Literaturtheorie, in der er dies darlegt.«
Gitta antwortete nicht sofort. Obwohl es einleuchtend klang und ihre Freundin vermutlich recht hatte, wollte sie nicht von ihrer Meinung abgehen, dass sie ihren Mann für gefährdet hielt. Klammers Interesse an Benjamin ging ihr zu weit über die professionelle Neugierde eines Schriftstellers hinaus. Und sie wusste auch, warum:
»Aber er schreibt nicht davon, er würde Benjamin nur beobachten. Er sieht sich als Lenker seines Geschicks. Und schließlich ist ihm mein Mann unsympathisch … er wird sicher nicht freundlich über ihn schreiben.«
Clara überkam große Lust, wegen dieses Einwandes zu lachen, aber dann kniff sie die Augen zusammen und sie richtete ihre scharfe, spitze Nase wie eine Waffe auf Gitta.
»Denkst du, dein Mann macht sich auch nur annähernd so viele Sorgen um deinen guten Ruf, wie du um den seinen? Hört er dir überhaupt zu, wenn du ihm von deinem Ärger erzählst?«, fragte sie ernst und ließ damit zum ersten Mal erkennen, dass sie, obwohl die beiden sich nie darüber unterhielten, sehr wohl wusste oder ahnte, wie es tatsächlich um Gittas Ehe stand. »Meinst du nicht, er ist alt genug und kann auf sich selbst aufpassen? Komm, lass uns ein bisschen in Klammers Novelle lesen.«
Gitta, der wegen der überraschenden Fragen ihrer Freundin das Herz bis zum Hals schlug, versteifte sich innerlich. Sie reckte beleidigt das Kinn nach vorn.
»Ich kann mir vorstellen, was das für ein Unsinn ist. Das interessiert mich nicht«, sagte sie und fügte in einem Anflug von Masochismus hinzu: »Lass uns lieber endlich Musik machen.«
Clara schüttelte energisch den Kopf.
»Das ist ja alles nicht wahr. Natürlich willst du genau so wie ich wissen, was dort steht. Warum muss ich dich immer zu allem zwingen?« Clara hatte sich entschlossen, Gitta wie eines ihrer Kinder zu behandeln, wenn es trotzte. Sie hatte festgestellt, dass es manchmal die einzige Art war, wie sie jemanden zu seinem eigenen Vorteil bewegen konnte.
»Setze dich bequem hin.« Sie deutete auf die Couch. »Für Telemann bleibt uns später noch genug Zeit. Du hast wieder nicht geübt, da will ich wetten.«
Gitta schoss erneut das Blut in den Kopf und sie leistete tatsächlich brav der Aufforderung ihrer Freundin Folge. Clara machte Licht an der Stehlampe hinter ihr, denn langsam wurde es in dem Raum zu dämmrig, um ohne ihren Schein zu lesen. Sie räusperte sich. Was sie jetzt zu sagen hatte, fiel ihr schwer. Ihr Tonfall wurde sanft, beschwichtigend.
»Und entschuldige bitte, was ich über deine Ehe gesagt habe, denn da du selbst nicht mit mir darüber reden willst, geht es mich vermutlich auch nichts an. Aber ich bin nicht blind und ich sehe, wie du leidest. Ich kann das sehr gut nachvollziehen, glaube mir. Ich sitze mit meinem Norbert im gleichen Boot. Ich wäre eine schlechte Freundin, wenn ich nicht versuchen würde, dir zu helfen.«
Gitta öffnete den Mund, um etwas Unfreundliches zu erwidern, doch Clara ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Sage jetzt bitte nichts. Lass uns doch später darüber reden. Aber denke bitte über Folgendes nach: Bedeutet es dir wirklich so viel, was Klammer mit Benjamin unternimmt? Ich habe festgestellt, dass du seit geraumer Zeit froh bist, wenn dein Mann nicht zu Hause ist und du dich nicht mit ihm auseinandersetzen musst. Du brauchst mir also keine Besorgnis vorzuspielen. Und jetzt sei still, lehne dich zurück und hör zu! Das wird bestimmt interessant. Ich verspreche es dir«, sagte sie und begann, sofort aus Klammers Werk vorzulesen, um Gitta das Wort abzuschneiden.
Sie tat es flüssig und gut; durch die vielen Lesungen und den täglichen Vortrag von Geschichten für ihre Söhne war geübt. Dass sie dabei einen etwas antiquierten Märchenonkelton hatte, passte hervorragend zu der Novelle, die erstaunlicherweise in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhundert spielte.
Gitta rieb sich unentschlossen die Hände an den Oberschenkeln und hörte anfangs nicht aufmerksam zu. Sie versuchte, sich über die Intensionen ihrer Freundin klar zu werden und dachte darüber nach, ob diese womöglich recht hatte – sie nämlich nur deshalb eine Gefahr für ihren Mann konstruierte, weil sie sich ihrer Gleichgültigkeit ihm gegenüber schämte. Was sie fürchtete, war vielleicht nicht, dass Benjamin tatsächlich etwas zustieß, sondern dass er, von Klammer beeinflusst, etwas tat, das endgültig über den Fortbestand ihrer Ehe entschied und das bislang gut verborgene Zerwürfnis entblößte. Dann jedoch wurde sie fast gegen ihren Willen in den Handlungsfluss von Klammers Geschichte gezogen. Er war weit von ihren Alltäglichkeiten entfernt und kam ihrem eigenen Literaturgeschmack entgegen. Dass die Geschichte von einer ihr verhassten Person stammte, geriet wegen des Erzählfadens, der von Klammer flüssig und interessant gesponnen wurde, in den Hintergrund und mutete ihr seltsam an. Auch Clara, die eigentlich nur die erste Seite hatte vortragen wollen, verfing sich nun in Klammers Erzählung und las weiter.