Nutzlose Menschen – Roman (Teil SECHS)

»Darf ich Ihnen inzwischen etwas anbieten? Einen Kaffee vielleicht?«, fragte Gitta, erneut mit dem unangenehmen Vorgesetzten ihres Mannes allein gelassen.

»Ich weiß Ihr freundliches Angebot zu schätzen, denn ich bin ein begeisterter Liebhaber einer guten Tasse Kaffee, aber in Anbetracht unserer Eile muss ich leider dankend ablehnen. Ich hoffe doch, Ihr Mann wird nicht allzu lang brauchen, sich ein Hemd und eine Hose überzuziehen. Mehr wird wohl nicht von Nöten sein, denn die Hitze lässt ja auch in der Nacht kaum nach. Es wird sonst ein wenig knapp, ich sagte es bereits. Bis in die Innenstadt zurück brauchen wir sicher zwanzig Minuten und ich will gar nicht an die dumme Parkplatzsuche denken. Dabei wollte ich …« Er biss sich auf die Lippen. Dann holte Klammer tief Luft, betrachtete Gitta in kurzer Konfusion, setzte zu einem weiteren Wort an, aber er unterbrach sich und schmunzelte.

»Jetzt wollte ich Sie doch etwas fragen, Frau Mammensohn-Sapher, und mir ist entfallen, was. Nicht nur das Gedächtnis Ihres Mannes scheint so löchrig wie ein Sieb zu sein, dieser Hitzesommer brennt auch Löcher in mein Hirn. Stellen Sie sich vor, ich habe gestern meine eigene Telefonnummer vergessen – das war sehr peinlich. In der letzten Zeit muss ich mit Sorge feststellen, dass sich meine Erinnerungslücken kumulieren. Es kann für einen Mann in meiner Position fatal sein, sich wichtiger Dinge nicht mehr gegenwärtig zu sein. Ich frage mich, wie so etwas passieren kann. Ich habe mich leider nie für Geriatrie interessiert. Wie die meisten fühlte ich mich ewig jung und dann – von einem Tag zum anderen – uralt. Vielleicht verkalke ich wirklich unaufhaltsam wie Hindenburg und verlaufe mich bald in meinem eigenen Wohnzimmer. Vielleicht befinde ich mich auch im Anfangsstadium einer Krankheit.«

»So sehen Sie mir aber nicht aus, Herr Klammer. Sie sind doch noch nicht alt«, entgegnete Gitta und lief in der sicheren, auswendig beherrschten Spur einer alltäglichen Konversation. Dabei beobachtete sie Benjamins Vorgesetzten genau. Er hatte sich tatsächlich für sein Alter, sie schätzte ihn auf über fünfzig, ausgezeichnet gehalten, auch wenn sie überzeugt war, dass er der Natur etwas nachhalf, sich zum Beispiel maniküren ließ, die Haare zumindest an den Schläfen färbte, wahrscheinlich auch sein Gesicht kosmetisch behandelte und perfekt rasiert war. Selbst an Hals und Oberlippe war kein Haar vergessen. Obgleich er viel zu warm angezogen war, schwitzte er nicht, roch im Gegenteil angenehm und leicht nach Sandelholz. Sie war noch nie einem Mann begegnet, der in einer so weiblich-eitlen Art auf sich achtete. Diese Äußerlichkeiten waren der Grund für Gittas Meinung, dass Klammer homosexuell war. Dabei kam ihr vage der Verdacht, dies alles könnte auch nur eine Maske sein – eine zugegeben nahezu perfekte Maske, die eine Persönlichkeit verbarg, die ihr völlig unbegreiflich und geheimnisvoll war und die Welt mit vollkommen anderen Augen betrachtete.

Was sie zu dieser Meinung brachte, war ein winziger Riss in der glatten Hülle Klammers, durch den sie einen Blick auf den sonst so sorgfältig verborgenen Menschen dahinter werfen konnte. Der Doktor schien zwar die Ruhe und Ausgeglichenheit selbst zu sein, aber sie sah, dass die Hand, mit der er jetzt den Kragenknopf unter der Krawatte öffnete, zitterte. Er hatte deshalb erhebliche Schwierigkeiten mit dieser gleichgültigen Geste.

»Verzeihen Sie bitte, aber ich muss mich ein wenig erleichtern«, sagte er dabei entschuldigend und runzelte ärgerlich die Stirn. Ihm kam wohl selbst in den Sinn, dass er einen Fauxpas beging. Seine Überlegenheit war plötzlich so vollkommen verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. War Klammer nervös, aus einem unbekannten Grund erregt? War er nur durch den anstrengenden Arbeitstag übermüdet oder war das Zittern schon das erste Vorzeichen des Alters, an dessen Schwelle er vielleicht tatsächlich stand, oder der eben erwähnten Krankheit? War dies nun der echte Klammer oder eine weitere seiner Masken, die wie die Häute einer Zwiebel übereinander lagen?

Gittas Blick wanderte zu seinen Augen. Das zupackende, durchforschende und kalte Grau seiner Iris verwirrte sie erneut, wie jedes Mal, wenn sie den Fehler beging, sich von ihm einfangen zu lassen. Kurz hatte sie das unangenehme Gefühl, nackt und durchschaut vor einem unheimlichen Fremden zu stehen. In diesem Blick war keine Freundlichkeit, keine Wärme, nur sezierende Schärfe und in den Augenwinkeln die Überlegenheit eines abgebrühten Zynikers. Wenn es nicht nur ein Märchen war, dass Augen ein Spiegel der Seele und des Erlebten sind, dann musste Gitta dem Eindruck Recht geben: Diese Augen hatten im Laufe ihres Lebens mehr gesehen, als für den Geist, dem sie die Welt abbildeten, gut sein konnte. Ein Nazimörder musste solch mitleidlose, dabei müde und abgelebte Augen haben.

Und im gleichen Augenblick nahm sie viele ihrer Gedanken zurück, denn sie erkannte plötzlich, worin das Verwirrende seines Blickes in der Hauptsache begründet lag. Klammer hatte einen leichten Silberblick. Sein rechtes Auge bewegte sich nicht völlig parallel mit seinem Pendant, driftete immer wieder einen Hauch nach innen. Dieser Sehfehler war allerdings so gering, dass ihn nur ein sehr aufmerksamer Beobachter bemerken konnte. Obwohl also ein kaum nennenswerter, latenter Strabismus für den irritierenden Ausdruck seiner Augen verantwortlich zeichnete, blieb bei Gitta doch ein Unbehagen, das in diesem Moment übermächtig wurde. Sie starrte zum Boden und eine Gänsehaut lief an ihren Oberarmen herab. Obwohl sie sich selbst wegen ihrer Gedanken ausschimpfte, hatte sie gleichzeitig eine irrationale, sympathetische Furcht, ihren Mann an diesem Abend allein mit Klammer fortzulassen. Sie konnte die Besessenheit spüren, die in den Bewegungen des Beamten lag, einen Wahn, der, so verrückt es klang, ihren Mann und auch ihre sorgfältig gehütete Ehe gefährden konnte. Sie verschränkte die Arme und überwand den Klumpen intuitiver Angst, der in ihr entstanden war.

Klammer war nichts weiter als Benjamins Vorgesetzter, der erste von vielen in der komplexen Leiter der Behördenhierarchie, ein unangenehmer Mann, aber doch ein nicht allzu bedeutender. Was konnte er schon sagen oder tun, das ihren Mann in Bedrängnis bringen konnte? So etwas zu glauben, war lächerlich, grenzte an Aberglauben und an die mittelalterliche Furcht vor dem Bösen Blick. Trotzdem hätte sie nun gern mit Benjamin geredet, ihm eine Warnung zukommen lassen.

»Ich werde mal sehen, wo Benjamin bleibt …«, wollte Gitta deshalb als Ausflucht sagen, kam aber nur bis zur Hälfte, denn sie wurde von ihrem Mann unterbrochen, der geschäftig und noch immer aufgeregt ins Wohnzimmer trat. Er trug eine weite, dunkle Hose und dazu ein weißes, kurzärmliges Hemd, sogar eine gedeckte Krawatte hatte er umgebunden. Gitta nickte bewundernd. Benjamin sah gut aus, obwohl ihm anzumerken war, dass er sich nur dem Anlass und der Eleganz von Klammer gebeugt hatte. Er fühlte sich in der guten Kleidung, in der ihn seine Frau so gerne sah, unwohl und ihm war bereits jetzt viel zu heiß. Schweiß stand glänzend auf seiner Stirn und ein dunkler Fleck war unter seinen Achseln zu sehen.

»Ich bin so weit«, sagte er überflüssigerweise und genoss den anerkennenden Blick Gittas, »von mir aus können wir jetzt gehen.« Klammer hob die Hand. Sie zitterte nicht mehr.

»Nach Ihnen«, erwiderte er und sagte, sich zu Gitta wendend: »Ich fahre Ihren Mann selbstverständlich später wieder zurück. Ich wünsche Ihnen viel Freude bei Ihrer Hausmusik.«

Auch die Überheblichkeit war in seine Stimme zurückgekehrt. Er folgte Sapher. Gitta folgte den beiden bis zur Haustür her und beobachtete, wie sie in Klammers Auto stiegen und davon fuhren. Sie sah sorgenvoll hinter dem BMW des Doktors her, bis er an der Kreuzung aus ihrem Blick geriet.

Sie wollte gerade die Tür hinter sich schließen, da hörte sie von der anderen Straßenseite ihren Namen rufen. Clara Szczesny kam im Laufschritt näher, den schmalen Koffer mit ihrer Flöte in der einen, großformatige Notenblätter in der anderen Hand. Sie war etwas außer Atem, als sie zu Gitta trat und sie flüchtig mit den Lippen an der Backe berührte. Gitta fiel dabei auf, dass ihr Mann es eben versäumt hatte, sie zu küssen. Er hatte sich nicht einmal verabschiedet.

»Hallo, Gitta«, rief Clara. »War das gerade dein Mann in diesem tollen Auto?« Gitta nickte. Ihr wäre lieber gewesen, ihre Freundin hätte noch ein wenig auf sich warten lassen, denn sie hätte sich gern die geheimnisvollen Papiere angesehen, die Benjamin vor seinem Chef in der Schublade verborgen hatte.

»Er hat heute ein Geschäftsessen mit seinem Chef. Komm rein.«

»Ach, das war Klammers Schlitten? Die scheinen ja gut von unseren Steuern zu leben, diese Beamten.« Ihre lange Nase wurde noch eine Spur spitzer. »Schade, ich hätte den legendären Chef von deinem Mann gern einmal gesprochen. Ich kenne ihn nur von einigen Lesungen und Vernissagen vom Sehen.«

Clara Wicht, die nur auf einen Doppelnamen verzichtet hatte, weil ihr Mädchenname Göttlicher gelautet hatte und die Kombination Göttlicher-Szczesny auf den Titeln ihrer Bücher zu lächerlich geklungen hätte, war Gittas beste Freundin. Sie kannten sich seit ihrer Schulzeit so gut wie Geschwister, trafen sich, dadurch begünstigt, dass sie in der gleichen Straße wohnten, fast täglich und tauschten sich über die Dinge ihres Lebens aus. Nur die Sorgen um ihre Ehe klammerte Gitta aus, sie waren, so lange sie sie selbst nicht recht einschätzen konnte, ein Tabu. Die eine Ausnahme in der ansonsten rückhaltlosen Ehrlichkeit war nicht zuletzt darin begründet, dass Clara inzwischen Kinder hatte und scheinbar eine Musterehe führte.

Hätte Gitta ihre Freundin mit einem Schlagwort beschreiben müssen, so hätte sie nassforsch gewählt. Sie kannte niemanden, der mit sich und seinem Leben so eins war wie Clara, der so vollständig auf dem Boden der Tatsachen ruhte, sicher und gewitzt auftrat und niemals einen ernsthaften Selbstzweifel hegte. Ihre Freundin gehörte zu den seltenen Menschen, denen, obwohl sie intelligent sind, nie Zweifel über ihre Taten kommen, die nie Unsicherheit zeigen und ihre Entscheidungen hinterfragen, immer das Recht für ihre Seite beanspruchen. Dazu war Clara ganz im Gegensatz zu Gitta penibel, geradezu pathologisch ordentlich. An sich stießen sie solche Charakterzüge ab. In diesem Fall jedoch überwog die gegenseitige Sympathie. Gitta hatte im Gegenteil das Bedürfnis, ihre willensstarke Freundin möglichst häufig um sich zu haben. Sie spürte, dass Clara ihr eine oft notwendige Ergänzung war. Anders als Gitta suchte sie den Verantwortlichen für Schwierigkeiten und Probleme mit anderen nie bei sich selbst. Sogar wenn ihr ihre Schuld glaubhaft gemacht wurde, führte sie noch ein selbstbewusstes, trotziges »Aber …« auf den Lippen. Mit Claras tatkräftige Unterstützung und Hilfe konnte Gitta zu jeder Zeit rechnen und sie nahm deshalb lieber ihre Freundin als den meist trägen Mann zur Rückendeckung mit, wenn sie sich mit Kreditinstituten, dem Staat oder der Justiz auseinanderzusetzen hatte. Claras Auftreten war so resolut und bestimmt, dass sogar die verbiestertsten Beamten handzahm wurden und im begrenzten Rahmen ihrer Möglichkeiten zuvorkommend wurden. Ein Auftritt von ihr im Finanzamt war legendär.

Die für ihre einfühlsamen Frauenromane bekannte Bestsellerautorin Clara Szczesny war also ein bemerkenswert robuster, aus der Masse herausragender Charakter; doch eine mutwillige Gottheit hatte sie mit einem dürren, wie ausgezehrten, halb entseelten Körper verspottet, der sie dem hölzernen Pinocchio verblüffend ähnlich machte. Ihre schmalen Handgelenke konnte ein Kind umfassen und dieser Körper war Hort einer Vielzahl von Krankheiten und Beschwerden, die ihr jeden Tag ihres Lebens zum quälenden Kampf machten. Die Schwangerschaften hatte sie wohl umsorgt in Krankenhausbetten liegend verbringen müssen und beide Söhne hatten das Licht der Welt nur durch einen Kaiserschnitt erblicken können. Auf die Kinder hatte sich allerdings diese Hinfälligkeit nicht vererbt; sie strotzten mit einer lauten, im Vergleich zur Mutter geradezu rücksichtslosen Konstitution. Clara jedoch hatte sich ihre ohnehin angeschlagene Gesundheit mit den innerhalb einer Jahresfrist aufeinander folgenden Schwangerschaften endgültig ruiniert: Sie litt unter hartnäckigen, allergischen Ausschlägen am ganzen Körper, chronischen Rückenschmerzen und musste sich wegen knotigen Geschwüren im Unterleib mehrmals Operationen unterziehen. Sie beklagte sich jedoch nie, jede Form der Hypochondrie lag ihr fern. Sie litt und schwieg, nahm ihr Schicksal wahrscheinlich deshalb so leicht, weil ihre Familie sie stärkte und sie nach außen hin mit ihrem Mann eine gelungene, eine glückliche Ehe führte. Claras Ausgleich zu Krankheit und verschleißenden Mutterpflichten war ihr ihre Musen, die Literatur und die Musik, denen sie mit beinahe fanatisch zu nennender Leidenschaft ergeben war. Pünktlich wie ein Vorortszug erschien jedes Frühjahr ein neuer Roman von ihr und sie studierte seit Jahren nebenher am Konservatorium Komposition, spielte ausgezeichnet mehrere Instrumente, wobei das bevorzugte die Querflöte war, auf der sie wie besessen in jeder freien Minute übte. Sie beherrschte die Flöte meisterhaft, die Schattenseite allerdings war, dass sie, in unnatürlicher Körperbeugung gegen die Lippen gehalten, für weitere körperliche Unbilden verantwortlich zeichnete, für Verspannungen, gar Sehnenentzündungen sorgte.

Gitta bewunderte zwar diesen Fanatismus, oder – besser formuliert – sie staunte ihn an, konnte ihn aber nicht nachvollziehen. Ihr, die tausend Dinge begann und keines beendete, häufig Kompromisse einging und voll von Halbheiten war, war dieser ausschließende Eifer, dieses extreme Ringen um Perfektion, fremd. Da sie nie Zeit fand und beständig den Zeigern der Uhr hinterher hetzte, war ihr auch ein Rätsel, wie Clara, die doch viele ihrer Nachmittage in Warte- und Behandlungszimmern von Ärzten verbringen musste, die divergierenden Dinge ihres Lebens, Familie auf der einen, Kunst auf der anderen Seite, unter einen Hut bringen konnte, ohne dass eines unter der Bevorzugung des anderen litt. Aber es gelang ihr offenbar und das, so sah es zumindest für Gitta aus, mühelos.

Allerdings zahlte Clara, die in der Nacht höchstens vier bis fünf Stunden schlief und ihre Texte im Morgengrauen schrieb, bevor sie die Kinder und ihren Mann weckte, einen hohen Preis. Obwohl die beiden Freundinnen im selben Alter waren, wirkte die Musikerin wie Mitte Vierzig; sie ging gebeugt und abgehärmt durchs Leben. Ihr von Natur aus hübsches Gesicht hatten ein Gitternetz von Falten und durch den allergischen Ausschlag entstellende Narben gezeichnet. In die Winkel des schmalen, verkniffenen Mundes hatte sich ein unangenehmer, verbitterter Zug eingegraben, der auf den ersten, oberflächlichen Blick leicht über ihre in den Augen sitzende Fröhlichkeit und offene Lebensbejahung täuschen konnte.

»Wie geht es dir?«, fragte Gitta routinemäßig, als sie in das Wohnzimmer gingen.

»Mir geht es gut«, log Clara mit der selben Geläufigkeit, obwohl sie heute wegen der Schmerzen in ihrem Rücken kaum sitzen konnte. Niemand sollte sich durch ihre Krankheit belästigt oder sich gar verpflichtet fühlen, sie zu bemitleiden. Claras große Angst war es, lästig zu fallen.»Lass uns gleich Musik machen, ich brauche das jetzt.« Sie trat dabei zum Klavier und legte Flöte und Noten auf den Hocker.

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