Nutzlose Menschen – Roman (Teil FÜNF)

»Es tut mir leid, aber er hat mir nicht gesagt, dass wir Sie erwarten«, erwiderte Gitta reserviert. Sie war noch nicht auf den Gedanken gekommen, Klammer hereinzubitten. Er schüttelte erstaunt den Kopf.

»Was soll ich denn davon halten? Er kann doch nicht einfach vergessen haben, dass wir verabredet sind. Wir haben ein paar wichtige Dinge zu besprechen. Ich habe deshalb Ihren Mann heute Vormittag zum Essen eingeladen; der Tisch ist bereits bestellt. Ich hoffe, Sie haben sich nicht die Mühe gemacht, eine Vesper vorzubereiten.«

Gitta verneinte. Eine Pause entstand und die beiden sahen sich stumm an. Dann gab sie sich einen Ruck, genau den Moment zu spät, der ihr Schweigen peinlich machte.

»Wir haben noch nichts gegessen. Benjamin sitzt im Garten und ich glaube tatsächlich, dass er das Treffen vollkommen vergessen hat.« Sie machte endlich die Geste, die den Doktor aufforderte, hereinzukommen. »Ich werde ihn holen.« Klammer putzte sich sehr sorgfältig die Schuhe ab, dann kam hinter ihr in den Hausflur geschlendert.

»Das ist mir sehr peinlich«, sagte er, aber sein belustigter Ton strafte seine Worte Lügen, »hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, wenn ich Ihnen heute Abend so unvermutet Ihren Mann entführen will.«

Gitta schüttelte abwesend den Kopf. Erneut entstand eine Pause. Ihr wurde bewusst, dass sie barfuß war und nur ein dünnes, vom Schweiß geflecktes Alltags-T-Shirt und eine enge Radler-Hose trug, während Benjamins Vorgesetzter in Anzug und Krawatte vor ihr stand, was ihm viel Autorität und Wichtigkeit verlieh. Es hätte sie sich nicht gewundert, wenn er nun wie ein Oberlehrer begonnen hätte, sie wie einen schlampigen Schüler streng zu examinieren.

»Das ist überhaupt kein Problem«, sagte sie. »Ich habe heute Abend schon etwas vor. Eine Freundin kommt zum gemeinsamen Musizieren und das ist nichts für Benjamin. Er hat kein Verständnis für Klassik, vor allem für Kammermusik. Da ist er froh, wenn ihm eine Ausrede auf dem Tablett serviert wird und er die Wohnung verlassen kann.« Gitta wunderte sich über ihre Mitteilsamkeit und lachte vorsichtig, verstummte aber sofort, als Klammer nicht einstimmte.

»Nicht wahr, Sie spielen Klavier, Frau Mammensohn-Sapher?«, fragte er ernst und beteiligt. »Welche Stücke denn?«

Über dieser Frage, in der eine vorsichtig dosierte Bewunderung schwang, stieg der Doktor in ihrer Achtung. Sie war ohne es zu wollen geschmeichelt und vergaß darüber, sich zu wundern, woher Klammer wusste, welches Instrument sie spielte.

»Im Moment üben wir die Blockflötensonaten Der getreue Music-Meister von Georg Philipp Telemann ein. Clara, das ist meine Freundin, mit der ich spiele, hat sie für Querflöte und Klavier eingerichtet. Sie studiert Komposition am Konservatorium.«

»Ah, die Flötensonaten von Telemann!«, rief Klammer überraschend schwärmerisch aus. »Das ist herrliche Musik, da ist der Komponist auf der Höhe seiner sinnlichen Meisterschaft! Diese Sonaten sind so virtuos und dabei doch affektgeladen, eine geniale Synthese aus der eher heiteren, gelösten italienischen und der bierernsten, sakralen deutschen Spielart des Barock; sie stehen in der Tat irgendwo zwischen Locatelli und Bach. Sie spielen also den Part des Generalbasses, der Orgel?«

Sieh an, dachte Gitta, er kennt sich aus. »Ja, dadurch klingen die Sonaten wie neu, nicht mehr so – wie soll ich sagen – klerikal, sondern romantisch, fast ein wenig nach Mendelssohn, da ist ein ganz besonderer Reiz dabei«, erklärte sie und hatte plötzlich Lust, sich näher mit Klammer über ihre Musik auszutauschen.

»Der unvergleichliche und dabei so bitter als Vielschreiber unterschätzte Telemann; er hat es verdient, dass man sich seiner Kunst annimmt! Nun, sie wohnen ja auch in der Clementi-Straße, da liegt eine Affinität zu meisterlicher, aber nahezu vergessener Musik nahe.« Dass Klammer wusste, dass die Straße, in der sie wohnte, nach einem bedeutenden, aber heute völlig unbekannten Komponisten aus der Mozartzeit benannt war, was außer Gitta und ihrer Freundin Clara, die es ihr gesagt hatte, wahrscheinlich niemand in ganz Waldkirch wusste, sprach für ein beeindruckendes Allgemeinwissen des Beamten, über das Benjamin schon häufig Erstaunliches geraunt hatte.

»Sie kennen selbstverständlich die Kammermusik von Rossini?«, fuhr er fort. »Nicht? Leider kennt man heute nur noch seine Opern, die, so schön sie sind, sein übriges Schaffen verdecken. Dabei ist es auf seine Weise, wenn auch das Wort genial zu hochgegriffen wirkt, doch zumindest einzigartig. Gut, er ist von Mozart beeinflusst, aber das hat noch keinem Komponisten geschadet. Ich habe da ein ganz entschieden missionarisches Bedürfnis. Ich werde Ihrem Mann mal eine Aufnahme von den frühen Streichquartetten Rossinis mitgeben. Er war gerade erst zwölf Jahre alt, als er sie schuf.« Für einen Moment wirkte Klammer, als würde er nun eine Melodie summen, die ihm durch den Kopf ging, aber dann entspannte sich sein fuchsschlaues Gesicht. »Machen Sie denn nur Hausmusik oder besteht die Möglichkeit, ihre Fassung der Sonaten in einem Konzert zu genießen?«

Bevor Gitta antworten konnte, hörte sie die Stimme ihres Mannes von der Veranda her:

»Wer ist denn gekommen, Schatz?«

Sie wusste nicht, ob ihr diese Unterbrechung recht war. Klammer schob sich eilig an ihr vorbei ins Wohnzimmer.

»Ich habe eine Rüge, Herr Sapher. Aber trotzdem wünsche ich Ihnen einen Guten Abend«, rief er aufgeräumt.

Gitta war sich nicht sicher, aber der Name hatte aus Klammers Mund wie Gaffer geklungen. Achselzuckend brachte sie schnell den Blumenstrauß in die Küche, wo sie ihn achtlos auf den Tisch warf. Dann folgte sie dem Vorgesetzten ihres Mannes eilig ins Wohnzimmer, denn sie wollte nichts von dem Gespräch der beiden verpassen. Sie musste sich beherrschen, um nicht lauthals zu lachen. Die beiden Männer, die sich gerade über der Lehne eines niedrigen Sessels – auf dessen Sitzfläche Klammer jetzt erst seine abgewetzte Aktentasche ablegte – die Hand reichten, boten in der Tat durch ihre Gegensätzlichkeit einen erheiternden Anblick. Dies lag in erster Linie an ihrem zur Salzsäule erstarrten Mann, der sich plötzlich schamvoll bewusst wurde, dass er nahezu nackt vor seinem überaus korrekt gekleideten Vorgesetzten stand. Er war für den Moment zu keiner Entgegnung von Klammers Gruß fähig. Gitta, die Erbarmen mit seiner steifen Hilflosigkeit hatte, sprang schnell in die Bresche, um ihm die Gelegenheit zu verschaffen, sich von seiner Überrumpelung zu erholen.

»Wir planen in der Tat im Spätherbst einige öffentliche Auftritte mit den Sonaten; aber bis dahin haben wir noch fleißig zu üben«, sagte sie und erreichte, dass sich Klammers Aufmerksamkeit wieder zu ihr wandte. Kurz war auf seinem Gesicht eine Frage zu sehen, während der er offensichtlich nicht wusste, wovon sie sprach. Klammer sank in ihrer Achtung wieder ein gewaltiges Stück, denn er ließ sie dadurch spüren, dass das eben im Flur geführte Gespräch von seiner Seite nur eine höfliche und unwichtige Konversation gewesen war, die er sofort wieder vergessen hatte. Da ihr sehr viel an ihrer Musik lag, schmerzte sie diese Gleichgültigkeit, die sie auch auf ihre Person gemünzt begriff.

»Und wo wird das Konzert stattfinden? Hier in Waldkirch?«, fragte er endlich. Gitta zuckte mit den Achseln.

»Natürlich nicht, hier gibt es nur Reihenhäuser. Außerdem ist es auf dem Land schwer, Publikum zu solchen Veranstaltungen zu locken. Der nächste Kulturverein ist in Diebolz«, sagte sie schroff. Sie wünschte sich, dass Klammer bemerkte, dass er sie beleidigt hatte. »Wir spielen in der Stadt im Konservatorium und wahrscheinlich auch im Haus der Kunst. Feste Termine gibt es allerdings noch nicht, da wir – wie gesagt – noch in der Vorbereitung sind, aber ich denke, Ende Oktober, Anfang November wäre realistisch«, erläuterte sie. Benjamin machte ihr in Klammers Rücken ein Zeichen, fortzufahren. Erst jetzt bemerkte sie seine seltsame Haltung. Er hielt seine linke Hand die ganze Zeit verkrampft hinter seinem Rücken verborgen. Dabei wich er langsam zur Wand zurück und benahm sich sonderbar. Gitta nickte andeutungsweise, um ihm zu verstehen zu geben, dass sein Signal bei ihr angekommen war.

»Wissen Sie, Herr Klammer, jetzt, im Sommer, und dazu in der Urlaubszeit, interessiert sich niemand für barocke Musik oder Kunst im Allgemeinen. Da hören die Leute lieber Verdaulicheres und liegen in der Sonne, so ungesund das in der heutigen Zeit auch ist. Aber im Oktober sind die Semesterferien vorbei und es wird auch wieder früher dunkel. Diese kirchliche, adventhafte Musik von Telemann, so empfinden wir sie zumindest heute, benötigt eine ruhigere Stimmung als die Hektik dieses heißen Sommers«, fuhr sie fort und wunderte sich selbst, woher sie so viele Worte fand. Klammer hörte ihr allerdings – den Kopf wie ein aufmerksamer Papagei leicht zur Seite geneigt – sehr interessiert zu. Ihr schien, als habe sie diesmal den Ton angeschlagen, der vonnöten war, ihn in ein Gespräch zu ziehen.

»Das ist eine aufmerksame Beobachtung von Ihnen«, erwiderte er freundlich. »Obgleich ich kein Freund der katholisch-gnostischen, leider auch cartesianischen Trennung von Geist und Körper bin, muss ich doch zugeben, wie naheliegend dieser Dualismusglaube ist, wenn ich bedenke, dass die Menschen in der Regel im Sommer mehr Körper, im Winter mehr Geist sind. Ich selbst ertappe mich dabei, dass ich, je länger die Tage werden, umso weniger lese und kaum noch ins Theater gehe, ein Umstand, dem die Veranstalter mit ihren sommerlichen Ferien oder Open-Air-Aufführungen Rechnung tragen. Vielleicht ist dies ein archetypisches Vermächtnis von weit entfernten, wechselwarmen Vorfahren – wer kann das schon ausschließen? Der profane Grund ist, denke ich, sicher auch die Kleidung, die im Winter verbirgt und einmummt, was in den heißen Tagen ohne Scham von jedem exhibitioniert wird. Sogar die öffentliche Moral ist in der kalten Jahreszeit um ein Vielfaches puritanischer und man denkt intensiver über die Dinge und den Sinn des Lebens nach. Weihnachten oder Ostern sind im Hochsommer undenkbar«, holte Klammer vor der von diesem unvermuteten philosophischen Erguss überschwemmten Gitta mit einem als vorwurfsvoll interpretierbaren Blick auf ihren durch das T-Shirt durchscheinenden BH aus. Er machte sich aber sofort mit einer wegwerfenden Handbewegung, die deutlich machen sollte, dass er nur plauderte, an eine Antithese, schwärmte von den warmen südlichen Gefilden, in denen es immer Sommer sei und die die Künstler auch in unseren Tagen trotz Umweltverschmutzung und Massentourismus noch immer mit unwiderstehlicher Magie anziehen und sie zu großen Werken inspirieren.

Gitta hörte nur mit einem halben Ohr zu. Während sie Klammers abwegige Ansprache eifrig benickte, sah sie mit den Augenwinkeln auf ihren Mann. Nun wusste sie endlich, warum sich Benjamin so seltsam verhielt. Er hatte die geheimnisvollen Papiere, in denen er gelesen hatte, in der Hand und wollte anscheinend nicht, dass sein Vorgesetzter sie zu Gesicht bekam. Dankbar nutzte er den unbeobachteten Augenblick in dessen Rücken, um die Unterlagen in einer Schublade der Anrichte verschwinden zu lassen. Er verschloss die Lade mit sichtbarer Erleichterung, zog den Schlüssel ab, steckte ihn in die Hose. Klammer war gerade beim Winter des Lebens – in dem meist der Körper vor dem Geist zu sterben beginne – angelangt, als ihn Benjamin zu Gittas Erleichterung endlich unterbrach:

»Ich hatte unsere Verabredung vollkommen vergessen«, sagte er entschuldigend. »Diese Hitze scheint mir den Verstand wegzuschmelzen. Ihr Vorschlag kam zu spontan und nebenbei. Wahrscheinlich habe ich Sie deshalb auch nicht beim Wort genommen.« Klammer drehte sich herum und legte die Stirn in Falten. Er brummte unwillig.

»Das sollten Sie aber grundsätzlich tun«, erwiderte er sehr ernst. »Ich habe sofort nach unserem interessanten Gespräch einen Tisch im Brandwirt bestellt. Das ist ein ganz außergewöhnliches Lokal in der Unterstadt. Man isst dort herausragend. Helmut Arndt, er ist Wirt und Koch in einer Person, hatte im vorigen Jahr sogar einen Michelin-Stern für seine Küche. Der Brandwirt war das einzige Restaurant in der Gegend mit dieser Auszeichnung. Aus mir völlig unverständlichen Gründen wurde er ihm allerdings im Winter wieder aberkannt. Ich verstehe nicht, was in den Köpfen der Gourmetkritiker vorgeht, nach welchen Maßstäben sie ihre Entscheidungen treffen. Objektivierbar sind sie sicher nicht! Die Kritik im Allgemeinen gehört zu jenen seltsamen, fast mythisch zu nennenden Spielen zwischen klugen Menschen, die ihre Zeit eigentlich nützlicheren Dingen opfern sollten. Das sind Spiele, deren, von außen besehen, komplexe, meist nur mündlich überlieferte Regeln ich nicht begreifen kann, auch nicht begreifen will. Die Börse gehört ebenfalls zu diesen kleinen Spielen, manchmal auch die Politik«, ereiferte sich Klammer und schwieg dann nachdenklich, wie beleidigt. Das Ehepaar Sapher öffnete einmütig den Mund, um zu dem unerhörten Verlust des Gourmetsterns Stellung zu beziehen, doch beiden fiel nichts dazu ein. Mit der Noveau Cousine hatten sie nichts im Sinn. Gingen sie zum Essen, was eher selten vorkam, dann schnell zum Italiener in Diebolz oder zu einem Griechen – Höhepunkt des Raffinements war am Hochzeitstag eine Pekingente im Hongkonghaus. Obwohl dies kein Grund war, verlegen zu werden, wurden es beide. Gitta wusste nicht genau, warum, Benjamin, weil er sich wieder seiner Unwissenheit schämte. Klammer sah von einem zum anderen, dann sagte er:

»Ich habe den Tisch für acht Uhr bestellt und das ist es jetzt bereits. Helmut wird die Reservierung nicht ewig aufrecht erhalten. Wollen Sie in der Badehose gehen? Es gibt zwar keinen Kleiderzwang im Brandwirt, aber sie sind vielleicht doch etwas zu leger angezogen.«

Sapher sah verwundert an sich herab, er hatte in der Zwischenzeit verdrängt, wie er gekleidet war. Er wurde rot.

»Nein, natürlich nicht, ich ziehe mich um. Ich bitte Sie um einen Augenblick Geduld«, erwiderte er und ging unsicher um Klammer und den Sessel herum, trat eilig aus dem Raum, warf seiner Frau im Vorbeigehen einen anerkennenden Blick zu. Kurz darauf war zu hören, wie er auf der Treppe zu den oberen Räumen stolperte und polternd fiel, das Ganze untermalt von einem kaum unterdrückten Fluch. Obwohl Klammer den Kopf zur Tür wand, ging er mit keiner Regung seines wieder ausdruckslos gewordenen Gesichts auf Saphers Missgeschick ein. Er schob eine Hand in die Hosentasche und sah sich in dem Raum um.

»Darf ich Ihnen inzwischen etwas anbieten? Einen Kaffee vielleicht?«, fragte Gitta, erneut mit dem unangenehmen Vorgesetzten ihres Mannes allein gelassen.

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