Nach so viel Nebel und Nässe im Oktober betreibt die Natur Wiedergutmachung. Ich habe mich kürzlich über den Satz: “Der Herbst ist der Frühling des Winters” lustig gemacht, aber auf diesen November trifft er zu. Es fühlt sich hier in Bayerns Süden an, als hätten März und November die Plätze getauscht und seit dem Wochenende kratzt das Thermometer beharrlich an der 20°-Marke. Von mir aus kann es so weiter gehen, zumindest bis Weihnachten, das ich mir sentimental, bitterkalt und schneereich wünsche. Ab dem 6. Januar darf dann wieder der Frühling zurückkehren.
Aber bis dahin ist es noch eine kleine Wegstrecke. Genießen wir sie!



Nutzen wir diese Tage. Sie sind kurz und allzu schnell vorbei.
Allen anderen, die im verregneten und strmischen Norden wohnen und sich gerne im Novemberleid wälzen, empfehle ich an diesem Martinstag einen Artikel aus dem letzten Jahr, den ich meinem Freund Hans-Dieter Heun gewidmet habe:
“Oh, Jammer und Not. Oh, dräuend Ungemach.
Oh je, oh jemine, die Sorgen! Die Sorgen!“Donald Duck
Alles ist nur eine Zeitlang schön.
Vorerst.
Nikolaus Klammer
Pünktlich wie die verheerenden Herbststürme in Italien, die Lebkuchen und Nikoläuse in den Supermarktregalen, den Kürbiscremesuppen, Wildwochen und Maronenrezepte auf den Speisekarten der Gaststätten und die künstliche Erregung, wer wieder einmal nicht den Literaturnobelpreis bekommen hat, ist ab Mitte Oktober in allen literarischen Zeitschriften, Feuilletons, Blogs und Foren, bei allen Dichterlingen und jenen, die es noch werden wollen – oder meinen, es zu sein -, ein Phänomen zu beobachten, das exakt bis zum ersten Advent reicht: Man erinnert sich plötzlich wieder an den November mit all seinen makaberen Festtagen. Es riecht überall nach Verzweiflung, Verwesung und Tod.
Mit den morgendlichen Nebeln, die ein viel zu früher, eiskalter Nordwind aus den klammen Wiesen über die feuchten, grauen Wege treibt, auf denen letzte bunte Blätter wie tote Schmetterlinge kleben, kultivieren die Literaten ihre ach so tiefempfundene, ach so heuchlerische Pseudotrauer, ich will sie mal Die Große Herbstdepression nennen. Sie wird im Advent von der Weihnachts-Weinerlichkeit und der Feiertagsbetroffenheit abgelöst.
Es ist, als hätten sie voller Ungeduld den ganzen Sommer darauf gewartet: Wie bestellt legen auch gleich ein paar Große erschöpft ihre Stifte zur Seite und den Geist in die Hände einer trauernden Nachwelt. Plötzlich springt jeder auf diesen Zug auf und drückt seine Betroffenheit in mehr oder weniger gelungenen Nekrologen und larmoyanten Erinnerungen aus. Die Journalisten reiben sich die Hände, weil sie ihre längst geschriebenen genialen Nachrufe endlich gegen Bares im Feuilleton unterbringen können und die Verleger sind erfreut, weil sie pünktlich zur Buchmesse die Werke des – egal, wie alt er war – immer allzufrüh von uns Gegangenen nachdrucken können und diese sich wie geschnitten Brot verkaufen. Ich glaube, es gibt keinen einzigen großen Autoren, der mitten im Sommer starb. Vielleicht wird hier von der Verlagsmafia auch manches Ableben künstlich hinausgezögert.*
Apropos Sommer: Wo waren sie in den letzten Monaten, die herbstgrauen, wehmütigen, todessehnsüchtigen, morbiden Gedichtlein und Texte voll von Herbst, Abschied, frühem Leid, Bedauern, Melancholie, Depression, Krankheit, Verzweiflung? Lagen sie am Strand in der Sonne? Wie Saunaschweiß perlen sie jetzt auf den erhitzten Stirnen der Lyriker und tropfen mit salzigen Tränen vermischt aufs Papier oder die Tastaturen! Ach, so klamm und kalt ist dem Poeten plötzlich, ein namenloses Gefühl greift ihn fest und unbarmherzig ans Herz und engt seine Brust. Wie einsam und verlassen ist er doch mit einem Mal, wie gleichgültig behandeln ihn seine Mitmenschen – so furchtbar allein ist er mit seinen tiefen Empfindungen und Sorgen. So sehr trägt er am Gewicht der Welt, am Kummer seiner Menschheit, dass ihm jeder Schritt zur schleppenden Qual wird. So schrecklich ist das Absterben der Natur und so furchtbar dabei sein eigenes Los, so bedeutungsschwanger die Kürze der Tage und die lange, frostkalte Nacht. Jammern auf höchstem Niveau. Ach, wir sind doch nur Staub im Wind.
“Oje, morgens ist es jetzt schon immer länger dunkel. Und abends auch. Da brauche ich tatsächlich Licht im Bad! Ich musste schon die Heizung anmachen, festes Schuhwerk und die dicke Jacke aus den hinteren Schrankwinkeln ziehen… Und in zwei Monaten ist Weihnachten! Wann soll ich da nur mit meiner Diät anfangen können?”
Das ist doch ein Gedicht wert! Das muss ich allen mitteilen, darüber muss man schreiben dürfen. Meine Herbstdepression, die interessiert die anderen, die teile ich. Ich kenne viele traurige Worte, die will jeder hören. Meine zweihunderttausend Facebook-Freunde kennen das gar nicht, das muss ich ihnen erklären! Von denen empfindet niemand so tief und ehrlich wie ich.
Vielleicht kriege ich ja von allen ein „like“. Ich nenne das Gedicht:
Herbstnacht
Ein Wasserfall von Kälte stürzt hernieder.
Die Menschen werden fahl und grau.
Asche dunkelt den Himmel.
Lichter erwachen
zu geisterhaft glitzerndem Leben.
Müde bleichen Sterne
in schweren Wolkenmeeren.Nacht wimmert zwischen den Ästen,
beweint den verlorenen Tag.
Die Stadt erbricht lasterhaftes Tun.
Schlaf sinkt wie Tod herab.
Schwärze schluckt den Lärm.
Nebel geifert grauen Qualm.
Alles still, Gott so fern:
Albträume Wahnsinniger.
Gut, nicht? Habe ich bei Alfons Andernaj geklaut. Ich bin selbst ganz betroffen. Ich werde mir jetzt eine gute Flasche Bordeaux öffnen und noch ein paar Tränen über das Schicksal der Menschheit vergießen. Dann schmecken die ersten Schoko-Lebkuchen noch viel besser.
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* Und damit habe ich jetzt auch einmal ein Internetgerücht in die Welt gesetzt. Ich bin gespannt, wann ich es bei web.de als Schlagzeile lese.