Lydia Sontheimer blieb erneut stehen und stemmte ihren Regenschirm gegen den Wind. Ohne sich dabei bewusst wahrzunehmen, musterte sie versonnen ihre Gestalt, die sich für einen Augenblick durch einen nahen Blitz holzschnittartig im undeutlichen, verdoppelnden Spiegel der Fensterscheibe eines Cafés abbildete. Sie war war keine Schönheit und sie war auch nicht hässlich, nur eine weitere, durchschnittliche Erscheinung inmitten der amorphen Menschenmassen dieser Stadt, eine unscheinbare Frau Mitte Vierzig, mausgrau, dünn und klein, mit großen, braunen Rehaugen und einem schlanken, dem Auge schmeichelnden Körperbau. Dabei war sie auf eine so vollkommene Weise durchschnittlich, dass sie für einen feinen Beobachter durch eben ihre Unauffälligkeit schon wieder zu etwas Besonderem wurde. Leider gibt es nur nur noch wenige Beobachter, sie sterben aus. Je mehr die Augen zu sehen bekommen, um so stumpfer und gleichgültiger werden die Blicke. Lydias Mann Manfred war eine der seltenen Ausnahmen: Er hatte – zumindest als sie sich lieben lernten – das Sehen noch nicht verlernt. Aber auch er schien seine Frau seit ein paar Jahren kaum mehr wahrzunehmen. Sie war aus seinem Blickfeld verschwunden wie ein schönes Bild, das man in sein Wohnzimmer hängt und an dessen Anblick man sich allzu schnell gewöhnt. Lydia litt darunter, konnte aber nichts dagegen tun, denn ihr auffälligster Charakterzug war eine nahezu pathologisch zu nennende Schüchternheit, die sie zum stummen Schatten ihres redseligen und kontaktfreudigen Mannes verurteilte.
Jetzt zerbrach der Donner langgezogen und knisternd, nur wenige Sekunden nach dem Blitz. Lydia seufzte grundlos, dann entschloss sie sich doch, das Café zu betreten. Die Neugierde trug endlich den Sieg über ihre Scham davon. Ohne den drängenden, dabei so geheimnisvollen Anruf ihrer Schwägerin, von der sie bislang nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab, und deren Bitte, sie hier zu treffen, wäre sie wahrscheinlich nie in das Lokal gegangen. Sie war sogar mehrmals zögernd und unentschieden an dem Café vorbeigelaufen, aufmerksam und vergeblich versuchend, einen Blick hinter die mit Stores verhängten Scheiben zu werfen. Nun half ihr auch der stärker fallende Regen des nahenden Gewitters bei ihrem Entschluss. Es war früher Nachmittag, aber man hatte in dem Lokal wegen der heranziehenden, tintenschwarzen Wetterfront die Beleuchtung eingeschaltet. Das gelbe, unzureichende Licht erzeugte eine müde, weinerliche Stimmung in dem Gastraum. Nur wenige Leute saßen verstreut an den Bistrotischen, die meisten von ihnen waren in eine Zeitschrift vertieft. Der Kellner lehnte gelangweilt an der Bar und drehte mit einem Zeigefinger in der künstlichen Lockenpracht seiner blondgefärbten Haare. Das Mädchen hinter der Theke beschäftigte sich mit einem Kreuzworträtsel. Sie trug einen viel zu kurzen Rock über ihren dicken Schenkeln.
Nachdem Lydia die widerstrebende Tür hinter dem Straßenlärm und dem rauschenden Regen geschlossen hatte, war es erstaunlich still. Nur das Knistern der Zeitungen und das stoßweise, dampfende Atmen der großen Espressomaschine waren zu hören. Der unaufdringliche Schweißgeruch von frischgemahlenem Kaffee stieg ihr in die Nase. Lydia klappte im Eingang stehend ihren Regenschirm zusammen. Bei diesem leichten Geräusch wanderten alle Augen zu ihr. Jemand hustete. Obwohl die Blicke flüchtig und desinteressiert waren, denn die graue Gestalt der mageren Frau wurde ja nur selten einer zweiten Begutachtung für wert empfunden, wich sie wie unter einem körperlichen Angriff zurück, suchte den Schutz der Wand hinter ihr, halb gegen eine Nische neben der Tür gewendet. Mit einer im Rücken versteckten Hand erspürte sie zu ihrer Beruhigung die grobkörnige Oberfläche der Raufasertapete, mit der anderen presste sie den feuchten Schirm gegen den Oberkörper, den wie einen Phallus geformten Griff in die Mulde zwischen ihren kleinen Brüsten gedrückt. Die Ruhe kehrte sofort zurück und die beiläufigen Blicke glitten von ihr ab, zurück zu den toten, aber eben bunteren Bildern der Illustrierten.
Jetzt wagte Lydia, sich vorsichtig umzusehen, ohne dabei schon ihren sicheren Platz beim Eingang aufzugeben. Sie tat es mit gesenktem Kopf, unter halb geschlossenen Lidern heraus. Sie suchte vergebens nach einer Frau, die dem Bild entsprach, das sie von ihrer unbekannten Schwägerin bei dem kurzen Telefongespräch gewonnen hatte. Lydia nickte, sich selbst eine Vorahnung bestätigend: Diese unerwartete neue Verwandte hielt sich offenbar nicht in dem Café auf, denn die einzigen Frauen hier außer ihr und der Rätsel ratenden Bedienung waren zwei ältere, arrogant wirkende Damen, die an einem Tisch vor dem Fenster saßen und schadenfroh und selbstvergessen den Leuten draußen auf der Straße bei ihrer Flucht vor dem plötzlichen Gewitterschauer zusahen. Lydia sah auf ihre Uhr und wusste dabei nicht, ob sie erleichtert sein sollte. Sie hatte sich durch ihr Zögern nur um wenige Minuten verspätet. Sollte sie hier im Café warten? Besser war es, schnell und dankbar nach Hause zu gehen, schließlich musste Manfred bald aus der Schule heimkommen. Bevor sie aber unverrichteter Dinge wieder ging und sich dem prasselnden Regen aussetzte, wollte sie einen letzten Versuch machen. Er sollte ihr Gewissen beruhigen. Sie wand sich an den Kellner, der nicht sehr dienstbeflissen seine bequeme Stellung aufgab und sich zu einem aufmunternden Lächeln herabließ.
„Verzeihen Sie bitte.” Lydias leiser und feiner Stimme war die Mühe anzumerken, die ihr diese wenigen Wörter machten. „Ich bin hier mit … Sabine Sontheimer verabredet und ich weiß nicht, ob …”
Sie zögerte, wartete auf eine Hilfe des Kellners, die sie aber nicht bekam. Sein Lächeln wurde eine Spur überheblicher und er sah ruhig auf die Spitze des Schirmes, von der es auf den Teppich tropfte. Lydia folgte seinem Blick und wurde rot. Es kostete sie ein erhebliches Maß an Überwindung, jetzt nicht zu fliehen.
„… wissen Sie zufällig, ob sie hier war?” Lydia räusperte sich. „Hat jemand vielleicht eine Nachricht für Lydia Sontheimer hinterlassen?”
Der Kellner schüttelte schon verneinend und selbstzufrieden den Kopf, als plötzlich eine bemerkenswert wohlklingende Stimme vom Hintergrund des Lokales her zu hören war. Sie war laut. Alle im Café zuckten überrascht zusammen und sahen sich neugierig nach ihrem Urheber um.
„Lydia, mein Schatz, ich bin hier.”
Der tiefe und melodische Wohlklang erschreckte sie ordentlich. Sie bekam weiche Knie, denn für einen Moment glaubte sie, die Stimme gehöre ihrem Mann, dem sie doch ihr heimliches Treffen verschwiegen hatte. Dann erkannte sie den wahren Besitzer dieser Stimme und wurde schnell wütend: Hinter einer Säule, die ihn bislang gedeckt hatte, tauchte plötzlich wie aus dem Nichts Siegfried Sontheimer, der Bruder von Manfred, auf.
„Meine Liebe, ich freue mich, dich zu sehen. Komm, ich nehme dir deinen Schirm ab”, rief er und trat näher, beide Arme nach ihr ausgestreckt. Sie wollte auf dem Absatz kehrt machen, doch der dürre, kleine Siegfried, der sie immer an einen schmutzig gelben und glatzköpfigen Kobold erinnerte, kam mit zwei flinken Schritten näher. Er entriss ihr den Schirm, den sie noch immer schützend vor sich hielt und nahm sie bezwingend bei der Hand, zog sie an sich heran. Diesem festen, bestimmten Auftreten hatte sie nichts entgegenzusetzen.
„ Das ist schön. Du hast dich doch noch hier reingetraut: Ich habe schon befürchtet, dich verlässt da draußen im Regen der Mut. Verzeih mir, aber ich muss dir einen Kuss geben. Wir haben uns ja schon Jahre nicht mehr gesehen; zuletzt, denke ich, auf der Hochzeit von Klaus. Wie geht es dir? Setze dich. Unterrichtet Manfred noch immer am Wieland-Gymnasium? Und arbeitest du noch in der Familienseelsorge? Willst du einen Kaffee oder doch lieber einen Cappuccino, hier gibt’s original italienischen. Oder wie wäre es mit einem kleinen Sherry, du bist ja ganz nass”, brach ein dichter Wortschwall über der Wehrlosen herein, die sich widerstandslos an Siegfrieds Tisch drängen, sich auf beide Backen küssen ließ und im übrigen kein einziges Mal den ohnehin vergeblichen Versuch machte, auf einer seiner Fragen zu antworten. Als Siegfried ihr lautstark Kaffee und Sherry bestellt hatte, endete seine Suada endlich mit den Worten:
„Ich muss mich bei dir entschuldigen.” Er sah sie dabei erwartungsvoll an.
Lydia sah bedauernd auf ihren Schirm, den Siegfried gleichgültig neben sich auf einen der leeren Stühle gelegt hatte. Es dauerte eine Weile, bis sie bemerkte, dass er ihr nun endlich die Gelegenheit gab, selbst etwas zu sagen. Erst jetzt erwiderte sie stumm den Blick ihres Schwagers. Sie wusste, sie hätte eigentlich auf der Stelle gehen müssen. Aber inzwischen war sie viel zu neugierig geworden, was Siegfried überhaupt von ihr wollte.
„Wo ist deine Frau?”, fragte sie, obwohl sie seine Antwort schon erahnte. „Ich war hier mit ihr verabredet.”
Sontheimer machte eine ausladende Bewegung mit den Armen, die ein amüsiertes Bedauern illustrierte.
„Deshalb muss ich mich bei dir entschuldigen. Ich habe keine Frau. Und ich bezweifle, ob es irgendwann einmal eine schafft, mich einzufangen. Für die Ehe bin ich nicht gemacht; es wäre für beide Teile eine Qual. Künstlern sollte übrigens allgemein das Heiraten verboten werden. Den Anruf bei dir habe ich eine Freundin machen lassen; Rosa Sarnet heißt sie, vielleicht kennst du sie. Sie ist Schauspielerin im Stadttheater und steht kurz vor der ganz großen Karriere. Sie ist sehr gut, du musstest einfach auf sie reinfallen. Das war nicht ganz fair, ich weiß, aber dieser Betrug erschien mir als die einzige Möglichkeit, dich zu einem Treffen mit mir zu überreden. Ich muss dich unbedingt sprechen. Zwischen uns besteht doch kein Streit, nicht wahr?”
Lydia ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Das war einer der Nachteile ihrer Schüchternheit: Weil sie nie etwas Unüberlegtes sagte, kam sie auch so selten zu Wort. Ohne dass es ihr bewusst wurde, begann sie an den Resten ihres linken Daumennagels zu kauen, der wie auch ihre übrigen Nägel häufig von ihr in Anspruch genommen wurde und bis zur Mitte der Fingerkuppe abgefressen und verschorft war. Dann nickte sie. Ihr Schwager hatte recht: Sie hatte mit ihm keinen Streit und wenn er sich mit ihr treffen wollte, dann hatte er sicher auch einen wichtigen Grund. Schließlich hatte er sich in den letzten Jahren völlig aus ihrem und dem Leben ihres Mannes zurückgezogen. Sie bedauerte, dass ihr Mann und seine zwei Brüder Siegfried und Klaus seit Ewigkeiten so miteinander verstritten waren und sie, wenn überhaupt, nur noch über ihre Anwälte miteinander kommunizierten. Die Gründe für diesen Streit, über die Lydia wenig wusste, waren vielfältig und verwickelt und reichten in die Jugend der Brüder zurück. Sie erinnerten Manfred, der neben Mathematik auch Geschichte lehrte, laut eigener Aussage weniger an eine Familienfehde als an den Peloponnesischen Krieg. Natürlich fühlte er sich wie auch seine Brüder vollkommen schuldlos an der Auseinandersetzung. Lydia konnte gut verstehen, warum die Brüder sich nicht mochten. Obwohl sie die gleichen Eltern hatten, konnten sie sich doch, auch rein äußerlich, kaum unterschiedlicher gedacht werden. Alle drei waren zwar intelligent; ihre Intelligenz war jedoch nicht von der gleichen Art. Dass es mehrere Formen und nicht nur Ausprägungen dessen gab, was allgemein als Intelligenz bezeichnet wurde und deshalb auch das IQ-Messen eine zweifelhafte Sache war, war Lydia in den Jahren langsam deutlich geworden, in denen sie als freiwillige Kraft in der Familienberatung der katholischen Kirche tätig war und dabei mit einer für sie verwirrenden Vielzahl an Problemen und Weltanschauungen konfrontiert wurde. So hatte sie gelernt, dass es neben einer analytisch-logischen Intelligenz auch noch eine kreative und eine soziale und noch einige andere gab. Sie maßte sich nicht an, eine Wertung zu erstellen, wusste allerdings, dass Manfred sich täuschte, wenn er sich dem Künstler Siegfried mit dessen in der Tat verworrenen, seltsam mystifizierenden und sich ins metaphysische versteigenden Weltsicht überlegen fühlte.
Obwohl Lydia Siegfried nur selten sah und seit mindestens fünf Jahren nicht mehr gesprochen hatte, kannte sie doch seine Gedankenwelt. Er ging davon aus, alleine eine Kunst mit einer schriftlich fixierten Theorie hätte es auch verdient, eine moderne Kunst genannt zu werden. Deshalb hielt er daran fest, in regelmäßigen Abständen Kommentare zu seinen Werken im Eigenverlag zu veröffentlichen. Lydia wusste sich diese Texte immer zu verschaffen, auch wenn sie nur selten in den Buchhandlungen auslagen und sie sie dann vor ihrem Mann verbergen musste. Für Manfred, für den die wahre Malerei mit Turner oder spätestens mit den Impressionisten untergegangen war, war Siegfrieds Kunsttheorie, die ja zudem noch von seinem ungeliebten kleinen Bruder stammte, nicht diskussionswürdig. Die Dinge, die es in diesen Heften zu lesen gab, waren zum großen Teil wirklich verstiegen und teilweise sogar unfreiwillig komisch. Auf der anderen Seite war Lydia sicher, dass auch Siegfried ein Stück der Wahrheit erhascht hatte; allerdings einen anderen Fetzen jenes unüberschaubar großen Tuches, das Gott gesponnen hatte. Sie rechnete es Siegfried hoch an, wie er, einmal die Hand um den Stoff geballt, nicht mehr locker ließ, sondern sich konsequent an ihm festhielt. Und hintereinander gelesen ergaben diese Texte für sie einigen Sinn; sie waren Siegfrieds Dichtung und Wahrheit, ein stabiles Fundament, auf dem er sicher stand. Für ihn gab es offensichtlich keine blind tappende, unsichere Sinnsuche mehr, er hatte ein Ziel gefunden, auf das er geradlinig zuschritt. Die Ergebnisse seiner Fortschritte drückte er in seiner Kunst aus, die Lydia allerdings überhaupt nicht gefielen, obwohl sie von der handwerklichen Reife beeindruckt war. Ihr hätten seine schmalen, schlecht fotokopierten und schlampig gebundenen Elaborate, die zwanzig Seiten Weltanschauung, die er am Ende jedes Jahres veröffentlichte und in aller Regel an seine Kunden und Gönner verschickte, vollkommen genügt, um ihr zu beweisen, dass er ein bedeutender Künstler war. Dazu hätte es für sie nicht auch noch jene großen, zumeist in seltsamen, den goldenen Schnitt missachtenden Seitenverhältnissen gemalten Bilder geben müssen, die immer wieder, mal mehr, mal weniger realistisch, die sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmale variierten und Lydia weniger wegen der Verletzung ihres Schamgefühls als durch ihre Penetranz abstießen. Nein, Siegfried konnte nicht logisch-abstrahierend denken und besonders mit seinen sozialen Kontakten, die sich in häufig wechselnden Geschlechtspartnerinnen erschöpften, stand es zum Argen. Lydia konnte sich nicht vorstellen, wie Siegfried mit jemandem Freundschaft schließen und diese über eine gewisse Zeit hinweg aufrecht erhalten konnte. Sie hatte bereits miterlebt, wie zielsicher er jede wunde Stelle bei seinem Gegenüber traf und sich dann an dem Schmerz des anderen erfreute. Trotzdem hatte Lydia Siegfried schon immer gemocht, er verschonte sie auch weitgehend mit seinen Zynismen.
Wie ganz anders war da der jüngste der drei Brüder. So weit Lydia ihn überhaupt einzuschätzen vermochte, hatte Klaus nichts mit Kunst oder Kultur im Sinn und jeder Gedanke über den Alltag oder über ein materielles Ziel hinaus erschien ihm als Zeit- oder Intensionsverschwendung. Es gibt Menschen, die hinreichend durch den Beruf beschrieben werden können, den sie ausüben, weil sie alle Charaktereigenschaften aufweisen, die das Vorurteil ihren Professionen zuweist. Klaus diente Lydia hierfür als Paradigma: Der glatte, allzeit geschäftstüchtige Versicherungsvertreter war der Freund aller und er mühte sich redlich, mit allen Freund zu sein. Sogar noch über sein professionelles Berufsbild hinausgehend gab er sich an allen Personen, denen er begegnete, interessiert; auch wenn es nur flüchtige Bekanntschaften waren. Er war aufmerksam, entwaffnend offen und stets hilfsbereit, dabei unaufdringlich höflich und zuvorkommend und nicht zuletzt eine Spur unterwürfig und gab auf diese Weise jedem das Gefühl, er sei für ihn etwas ganz Besonderes. Klaus hätte in Lydias Augen glänzend ins erstarrte 18. Jahrhundert an einen Fürstenhof gepasst, wo er als begnadeter Höfling hätte intrigieren und antichambrieren können. Natürlich ließ jedermann sich von Klaus versichern und er war in der Region für seine Gesellschaft der beste und erfolgreichste Vertreter, deshalb auch ihr höchstbezahlter Mitarbeiter. Die wenigen Gespräche mit Klaus hatten auch Lydia für ihn eingenommen. Durch seinen nie aufgesetzt oder einstudiert wirkenden, immer wieder erfrischend herzlichen Charme war sie bei den zwei kurzen Begegnungen mit Klaus zum ersten Mal während ihrer Ehe wieder zu dem wunderbaren Gefühl gekommen, als Mensch interessant und als Frau begehrenswert zu sein. Trotzdem blieb ein Fragezeichen, wenn sie an Klaus dachte. Er war ihr zu gelenkig und zu freundlich. Immer war er perfekt und a la mode gekleidet, bewegte sich in den besten Kreisen, lebte in einer eleganten Eigentumswohnung in der Innenstadt, fuhr die schnellsten Autos und aß in den teuersten Lokalen. Schließlich heiratete er auch noch eine Miss Bayern, eine Ehe, die schnell wieder gescheitert war. Die Gründe waren Lydia allerdings nicht bekannt. Sie empfand die Welt von Klaus als eine zugegebenermaßen perfekte Maske. Sie fragte sich, ob es da noch mehr von ihm gab und was es dann war, was Klaus verbarg. Obwohl sie nur sehr wenig von ihm wusste, wesentlich weniger als von seinen Brüdern, konnte sie sich vorstellen, dass er trotz seiner vielen sozialen Kontakte ein einsamer und unzufriedener Mensch war, der an der für sie offen zu Tage tretenden Leere seines Lebens litt. Dies konnte jedoch auch ein einem Wunschdenken von ihr entsprungenes Vorurteil sein.
Blieb noch ihr Mann, der die letzte Spitze dieses seltsamen Geschwister-Dreiecks bildete: Manfred war ganz Verstand. Er war für ein akademisches Leben geboren und seine wenigen intensiveren menschlichen Kontakte unterhielt er zu Persönlichkeiten, die in der Regel schon lange tot waren, nämlich zu den Autoren der Bücher, die er las. Er las, so empfand es zumindest seine längst vor diesem Phänomen resignierte Frau, wie ein Besessener; ganz als befürchte er, innerhalb seiner Lebensspanne sein Pensum nicht erfüllen zu können und deshalb einer literaturlosen Verdammnis anheim zu fallen. Wohin er ging, was er auch tat, nie war er ohne Buch und in jedem Augenblick, den er sich freimachen konnte, las er. In den letzten Jahren hatte er sogar die Marotte entwickelt, seinen Schlaf auf fünf, sechs, manchmal gar auf nur vier Stunden zu reduzieren, um die so gewonnene Zeit mit seinen Studien verbringen zu können. Der schwerleibige, beständig mit dem Übergewicht kämpfende Mann wurde dadurch immer unausgeglichener und entwickelte einen beachtlichen Jähzorn, den Lydia aus der Anfangszeit ihrer Ehe nicht kannte. Sie wusste, dass Manfred in zunehmendem Maße mit seinem Leben unzufrieden war und seine übertriebene Büchersucht eine Fluchtbewegung war, hinter der er Sinnleere und zunehmende Kräfteverluste versteckte; es waren Symptome eines allbekannten Phänomens, das einfallsreiche Psychologen in ihrer Begriffsschöpfungslust als „Midlifecrisis” oder, noch moderner und eleganter, als „Burned-out-Syndrome” titulierten. Anfang des 20. Jahrhunderts hätte man bei Manfred wie bei Gottfried Benn „Idiosynkrasie“ diagnostiziert. Obwohl die außergewöhnlich emphatische Lydia sich dieser Tatsache bewusst war, sah sie als zur Seite geschobene und gewohnte, als Gesprächspartner nie völlig ernst genommene Ehefrau keine Möglichkeit, ihm wirklich zu helfen. Tatsächlich ließ Manfred sich von niemandem helfen, am wenigsten von Lydia, deren nahezu kindlicher Katholizismus und christliche Toleranz nur seinen aufdringlichen Atheismus zum Widerspruch reizten. Er musste diese selbst heraufbeschworene Krise auch selbst überwinden oder an ihr scheitern. Der schmerzhafteste Stachel in seinem Fleische, an dessen Vorhandensein er nicht zuletzt seiner Frau die Schuld gab, war sein in den letzten Jahren verstärkt als Tantalusqual verstandener Beruf. Trotz allen Bücherwissens, trotz des eifrigen Studierens von Geschichte, Deutsch und Mathematik hatte es bei ihm aus finanziellen Erwägungen, aber ebenso auch aus mangelnder Konsequenz im Beschränken seiner polyglotten Interessen nur zum Lehramt in diesen Fächern gereicht. So bemühte er sich vergebens, in einem ewigen Kreislauf gefangen, seinen zunehmend ökonomisch und nur auf die nächste Arbeit fixierten Schülern das seiner Meinung nach allernotwendigste Grundwissen des geschichtlichen Werdens, der literarischen Selbstdarstellung des Menschen und des mathematischen Erfassens der Welt zu vermitteln. Längst waren dabei seine hohen Bildungsideale gestorben und so schraubte er seine Mindestanforderungen Jahr für Jahr weiter zurück, bis sie schließlich die bequeme Ebene der nüchternen Lehrplanerfüllung erreicht hatten. Früher hatte er noch gehofft, dass er zumindest ein paar seiner Schüler zu Adlaten machen und auf eine formale, wissenschaftliche Art des Denkens und des Gedankenaustausches heben konnte, aber diese Hoffnungen brachten ihm nur Disziplinschwierigkeiten und Ablehnung ein. Heute war er froh, wenn ein paar seiner Schüler konkret-operational handelten und die bis zum Erbrechen repetierten Sachverhalte in einem einigermaßen verständlichen Deutsch wiedergeben konnten. Während er immer älter wurde, die Schüler aber ewig jung blieben, schien ihm, dass sogar diese Konditionierungserfolge immer seltener von Erfolg gekrönt waren. Manfred war dabei immer einsamer geworden und er hatte keine Freude mehr; er bemühte sich auch nicht, irgendwelche soziale Kontakte aufrecht zu halten. Seine beiden Brüder hasste und verachtete er, mehr noch den offenen, allseits beliebten Klaus als Siegfried, den er zumindest ab und an erwähnte. Natürlich vermied er jede Begegnung mit den beiden und wechselte die Straßenseite, wenn er sie von Weitem sah.
Wie Lydia plötzlich einfiel, gab es jedoch etwas, das die drei auf sehr bezeichnende Weise miteinander verband und ihre verwandtschaftlichen Bande deutlich werden ließ: keiner der Brüder hatte Kinder. Jeder distanzierte sich auf seine Weise davon, Vater zu werden. Hinter allen vorgeschobenen Gründen glaubte Lydia zumindest bei ihrem Mann den tatsächlichen gefunden zu haben. Es lag an seiner als krisenhaft und in der Rückschau als schmerzlich empfundenen Kindheit, die ihm seine Eltern bereitet hatten. Weil sie um diese Problematik wusste, hatte Lydia stets nachgegeben und nicht weiter auf ihrem eigenen Herzenswunsch nach einem Kind bestanden. Inzwischen fühlte sie sich zu alt und sie fand, dass sie diesen Verlust ordentlich durch ihre soziale Arbeit kompensieren konnte. Auf der anderen Seite blieb aber an den Abenden, die ihr Mann zurückgezogen in seinem Arbeitszimmer unter Büchern begraben verbrachte, eine leere und taube Stelle in ihrer Brust. Manchmal glaubte sie sie sogar durch einen unauffälligen, nebensächlichen Schmerz, eine gewisse Druckempfindlichkeit lokalisieren zu können. Sie sprach nie mit Manfred darüber. Er hätte ihr wahrscheinlich auch nicht ernsthaft zugehört. Seine eigene Krise nahm ihn vollkommen in Anspruch. Niemand ist so egozentrisch wie ein Mensch mit Problemen, er erwartet, dass jeder um ihn herum sie zumindest ebenso ernst wie er selbst nimmt. Geschieht dies nicht, ist er beleidigt. Probleme der anderen stören da nur. Beleidigt zu sein war ein Grundcharakterzug Manfreds; er konnte aus diesem Gefühl heraus zu gehässigen Attacken neigen. Deshalb übte Lydia, was sie am Besten konnte, nämlich ihre stumme, schüchterne Zurückhaltung, mit der sie ihre Liebe zu ihm auszudrücken versuchte. Manchmal hatte sie den seltsamen Gedanken, dass sie nur Frauen kannte, die liebten, Männer taten etwas anderes, sie wollte es in Ermangelung eines anderen Wortes assimilieren nennen.
„Lydia! Wo sind deine Gedanken?”, fragte plötzlich Siegfried, sie hatte zumindest den Eindruck, dass er es plötzlich tat. Er klang eine kleine Spur amüsiert und zugleich vorwurfsvoll. Es gelang ihm hervorragend, seine dunkle Stimme mit allen möglichen Stimmungsandeutungen zu modulieren. Sie zuckte schuldhaft zusammen. Ja, wo waren ihre Gedanken? Sie wusste es wirklich nicht.
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Auch für diese Erzählung gilt: Wenn jemand gerne ihre Fortsetzung lesen möchte, möge er/sie sich bei mir melden. Ich werde sie dann in meinen Weblog setzen.
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