Das Wahr-Lügen

Es klingt nach einer Binsenweisheit: Autoren sind Geschichtenerzähler.

Gerade wenn sie behaupten, sie gäben die Wirklichkeit wieder oder erzählten nun die ungeschminkte Wahrheit, ist Vorsicht geboten. Freilich hat jeder Text ganz zwangsläufig einen autobiografischen Anteil, wie sich auch etwas von mir in einer Stachelbeer-Aprikosen-Marmelade befindet, die ich koche. Aber der Autor versteckt und verbirgt sich, spielt Vexierspiele und Charaden. Was er als erzählenswert betrachtet, presst er durch das engmaschige Netz seiner Persönlichkeit und Meinungen. Nur manchmal ist ihm das bewusst, häufiger arbeitet beim Schreiben sein Unterbewusstes für ihn: Er lügt, ohne sich der Lüge bewusst zu sein. Oft weiß sein Publikum das und fordert es auch von ihm. Ein schönes Beispiel dafür sind die „Papillon“-Bücher von Henri Charrière. Sobald er in seinen Erinnerungen nach unzähligen Abenteuern und Fluchtversuchen die Teufelsinsel verlassen hat (auch die Verfilmung endet hier) und von einer überprüfbaren, näher am Jetzt liegenden Zeit erzählt, wird alles auffallend langweilig, was er noch zu berichten weiß. Wir lieben das Buch für seine Lügen, nicht für seine Tatsachen.

Das darf dem Autor aber nicht zum Vorwurf werden, denn er hat gar keine andere Wahl. Selbst wenn er sich müht, die Dinge so abzubilden, wie sie sind, sind sie doch nur die Schattenbilder, die ein flackerndes Lagerfeuer an die unregelmäßigen Wände der Höhle wirft. Ohne weiter Platon bemühen zu wollen: Erzähltes ist die Abstraktion einer Abstraktion. Der Leser kann nie das sehen, was der Autor sah  – und wer weiß schon, ob die Augen des Schriftstellers wirklich die gleichen Dinge sehen. Vielleicht ist seine Welt so weit von der meinen entfernt, dass nur mehr die Sprache eine unzulängliche, wacklige Brücke zwischen ihm und mir bilden kann.

Trotzdem ist die Erzählung des Autors auf einer anderen Ebene ebenso wahr, wie sie – objektiv – falsch ist. Wahrheit kann auch durch Lügen entstehen; zum Beispiel, wenn es darum geht, über die eigene Kindheit zu berichten. Zu unzulänglich sind die Erinnerungen, zu groß die Lücken. Zu oft täuschen uns die Berichte Älterer, Zeiten und Orte vermischen sich, wichtige Menschen verlieren sich zu undeutlichen Konturen und jeder Befragte erinnert sich anders.

Ein Beispiel: Der – von mir mal abgesehen – einzige Künstler in meiner nahen und auch ferneren Verwandtschaft war ein äußerst erfolgloser Kunstmaler, der Werner Nebler hieß und dessen Atelierwohnung in der Annastraße ich als Fünf- oder Sechsjähriger am Ende der 60er Jahre – näher lässt sich das nicht mehr einschränken – mit meiner heute dementen Mutter besuchte. Es ist das einzige Zusammentreffen mit ihm, an das ich mich erinnere. Er ist nur wenige Jahre später verstorben.

Ich musste den dürren, kleinen und kahlen Mann mit den spitzen, rosigen Ohren „Onkel Nebler“ nennen, obwohl er mein Großcousin 2. Grades war und ich ihn sonst nur zum Geburtstag meines Vaters sah. „Onkel“ Nebler – ich wusste nicht einmal seinen Vornamen. Seine abgehakten, dabei ausufernden Bewegungen erinnerten mich an einen Kakadu. Nebler war ein klassischer Hungerkünstler, der zu Familienfeiern kleine See- und Waldstücke verschenkte, die er zu diesem Zweck eigens anfertigte. Jeder in meiner Familie hat noch den einen oder anderen „echten Nebler“ in der Wohnung hängen oder verschämt hinter Kisten auf dem Dachboden verborgen. Wertvoll werden diese Bilder allerdings nie mehr, sie sind nicht einmal besonders geschickt gemalt.

Eine Zeitlang pinselte er für das Capitol-Kino hinter dem Merkurbrunnen großformatige Filmplakate auf Sperrholzgrund, die über dem Kinoeingang in einem eigenen Rahmen weithin sichtbar Werbung für den gezeigten Streifen machten. Obwohl das Capitol inzwischen den Multiplexkinos gewichen und in eine Tanzbar umgewandelt wurde, gibt es diesen Rahmen über den Türen noch immer. Er benutzte für seine Plakate die Standfotos aus den Filmen, ergänzte sie durch exotische Hintergründe eigenen Entwurfs, den Filmtitel, die Hauptdarsteller und die Vorführzeiten. Offenbar machte er jedoch Mitte der Fünfziger den Fehler, Gordon Scott als Tarzan nur mit einem Lendenschurz bekleidet darzustellen. Die Moralvorstellungen der Augsburger ließen das damals nicht zu und so verlor er diesen Job. Also dilettierte er weiter seine röhrenden Hirsche, seine schönen Zigeunerinnen und seine heimlich trinkenden Mönche, die sich allesamt kaum verkauften.

Onkel Nebler, den die Erwachsenen grundsätzlich „der Nebler, Werner“ nannten, mit einer kurzen Pause nach dem Familiennamen und das „Werner“ wie eine Frage formuliert, wohnte während des Krieges im Haus meiner Großeltern väterlicherseits. Als Opa als Soldat an der Front war, gebar meine Großmutter nach zehn Monaten meinen Onkel, der 17 Jahre jünger ist als mein Vater. Er sieht ihm und auch dem Großvater nicht ähnlich…

Die Atelierwohnung im Dachjuchhe (das Wort ist eine Neuentdeckung, ich habe es gerade bei Dieter Kühn gefunden) war eng und niedrig; angefangene Bilder lehnten gegen die Dachschrägen. Für mich als Kind war das Beeindruckendste in dem Atelier eine H0-Dampflock mit drei Waggons, die auf ihren Schienen direkt auf dem schmutzigen Parkett eine große Ellipse um die Staffelei zogen.  Das Werk, an dem er im Brennpunkt der Gleise malte, war eine Ansicht des Hamburger Hafens. Ich wurde eine Weile mit ihm im staubigen Atelier allein gelassen, während meine Mutter mit seiner Frau ins Café Bertele ging. Große, hohe Fenster gewährten einen wunderschönen Blick über die bunten Dächer der Innenstadt auf die strenge evangelische Moritzkirche. Das war ein Ausblick, der mich mehr faszinierte als die flachen Ölgemälde, die penetrant nach Petroleum und Ölfarben stanken, ein Geruch, der auch an Onkel Nebler hing, als wäre er ein Teil von ihm. Ich setzte mich zu ihm an einen über und über mit Farbresten bekleckerten Tisch, machte mich dabei ordentlich schmutzig und sah ihm beim Malen zu und der Dampflok beim Rundenziehen zu. Irgendwann drehte er sich zu mir, legte seine Palette und den Pinsel zur Seite und wühlte in den Taschen seines Malermantels. Lange kramte er, förderte Kreidestückchen, Radierer, Kohle zu Tage. Dann drückte mir ein kleines Geldstück in die Hand und vergaß mich. Er wandte sich zurück zu dem winzigen Kirchturm im Hintergrund seines Bildes, den er mit ein paar flüchtigen Farbpunkten skizzierte. Ich fand es erstaunlich, wie es ihm gelang, mit so wenigen Strichen diesem Turm eine glaubwürdige Existenz zu geben.

Als wir später die enge Holztreppe hinunterstiegen, die ebenfalls nach dem Atelier und dazu noch nach Bohnerwachs stank, fragte meine Mutter, was der Onkel Nebler mir geschenkt hätte. Erst jetzt öffnete ich meine schwitzige Kinderfaust, in der sich ein silbriges 50-Pfennig-Stück befand. Meine Mutter sagte: „Das musst du in Ehren halten, für den Onkel Nebler ist das viel Geld. Er ist so ein armer Mann. Das kann er sich als Künstler eigentlich überhaupt nicht leisten.“ Ich war beeindruckt und schloss meine Faust wieder. Ich entschied mich, auf keinen Fall Künstler zu werden. Am nächsten Tag kaufte ich mir für die 50 Pfennig fünf Päckchen mit Tiersammelbildern. Die meisten hatte ich leider schon.

Diese Geschichte habe ich noch nie erzählt. Aber ist sie auch wahr?

Nun, der Onkel hieß nicht Werner Nebler, so, wie ich nicht Nikolaus Klammer heiße. Er war zwar Kunstmaler und er hatte auch ein Atelier in Augsburg in der Annastraße, aber ich kann mich nicht an den Besuch erinnern, von dem mir einmal meine Mutter berichtet hat. Sie trank übrigens niemals Kaffee. Das mit der Eisenbahn auf dem Boden hat mir meine ältere Schwester erzählt. Was ich mit dem Geldstück machte? Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich wurde es in meinem rosa Plastiksparschwein für später verwahrt. Nebler und seine Frau, die putzen ging, waren arm, nahe am Bettelstab und mein Vater hat tatsächlich noch ein paar Ölschinken von ihm auf dem Dachboden aufbewahrt, die er ihm aus Mitleid abgekauft hat. Wie der Maler aussah? Ich habe keine Vorstellung, denn ich habe kein Foto von ihm gefunden. Die anderen Geschichten? Mein Onkel, das Kino, Tarzan? Das waren Familiensagen, teilweise leise geraunt. Die habe ich irgendwann gehört, ich habe sie nicht erlebt. Ob sie wahr sind? Ob ich jetzt die Wahrheit erzählt habe? Wer weiß…

Dennoch ist diese Geschichte nicht gelogen: Sie spiegelt die Zeit, das Denken und nicht zuletzt mich als Kind wieder. Es entstand ein Wahrlügen. Wer Näheres wissen will, dem sei dieser viel zu wenig gelesene französische Dichter (1897 – 1982) empfohlen:

AragonLouis Aragon
Das Wahr-Lügen
(
Fischer TB, 1983, leider nur mehr antiquarisch erhältlich)

2 thoughts on “Das Wahr-Lügen”

Kommentar verfassen

Related Post

Entdecke mehr von Nikolaus Klammer

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen