Freitagsaufreger (35) – Fahrstuhlmusik

… weil sie mit Geräusch verbunden.

Das Sudoku im Zeitmagazin wird immer leichter. – Seltsam, warum steht das hier? Das wollte ich eigentlich überhaupt nicht schreiben. Auch wenn es wahr ist. Aber wo käme ich denn da hin, wenn ich alles aufschreiben würde, was wahr ist? Wahrscheinlich wegen Beleidigung und Blasphemie vor Gericht.

Ich wollte mich über etwas ganz anderes aufregen und sah gerade blicklos zum Fenster hinaus auf den durch die sommerliche Hitze verdörrenden Rasen meines Gartens. Ich sammelte mich für einen Eingangssatz, der „Seit geraumer Zeit habe ich neue Nachbarn und sie bringen mich ganz langsam um den Verstand“, lauten sollte. Das ist genau der Einstieg, den ich für meinen Aufreger brauche: Das Thema wird vorgestellt und der Leser neugierig gemacht. Aber es ist anders gekommen. Offenbar war das Tippen dieses ersten Satzes oben ein direkter Befehl meines Unterbewussten an die Finger, die sich in einem bedingten Reflex flink über die Tastatur bewegten – gelobt sei das Zehn-Finger-Tastschreiben, das ich in der Schule nicht lernen wollte und mir erst mühsam als Erwachsener beibrachte. Das hat seine Vorteile, da ich mich nicht neben dem Fabulieren mit der Suche nach dem richtigen Buchstaben auseinandersetzen muss, führt aber immer wieder zu Freud’schen Fehlleistungen.

Ich schrieb also unter Umgehung aller Kontrollinstanzen meines bewussten Verstandes, der eigentlich über meine seltsamen Nachbarn plaudern wollte, stattdessen über die Rätsel im Zeitmagazin. Interessant, womit sich mein ES beschäftigt, während sich mein Über-Ich den Kopf zermartert, wie es einen lustigen und gelungenen Blogartikel formulieren kann. Offenbar funktioniert das von mir bislang eher belächelte automatische Schreiben – das Écriture automatique der Surrealisten – doch ganz gut. Allerdings bezweifle ich, dass meine somnambulen Texte besonders gelungen wären. Aber das sind die von André Breton und Jack Kerouac auch nicht. – Themenwechsel:

Seit geraumer Zeit habe ich neue Nachbarn und sie bringen mich ganz langsam um den Verstand. Ich kenne nur ihre Stimmen; wie sie aussehen, weiß ich nicht, denn sie verbergen sich hinter einer drei Meter hohen und komplett undurchsichtigen Thuja-Hecke. (Bitte nicht mit dem Augsburger Kabarettisten, Restaurantbesitzer und Hans-Dampf-in-allen-Gassen Silvano Tuiach verwecheln, der sich mir zwar ebenfalls unvermeidbar wie eine Besatzungsmacht überall in den Weg stellt und durchaus eine entfernte Ähnlichkeit mit dem giftigen, allergienauslösenden Gewächs, dem man in Augsburgs Weichbild nirgendwo entkommen kann, aufweist.) Die Tuiach …, Herrschaft, mein Unterbewusstein! … die Thujahecke ist die Burgmauer des modernen Deutschen. Sie umzäunt sein heimatliches Castle  und sperrt ihn in sein handtuchgroßes Eigenheimgärtchen wie in eine düstere und feuchte Gefängniszelle.  Thuja (nicht Tuiach) ist ein widernatürliches Monster, Sibylle Lewitscharoff würde sagen, eine hässliche, scharf nach Putzmitteln stinkende „Halbpflanze“, in der keine Vögel nisten können, aber dafür Obstbaumkrankheiten überwintern. – Egal, ich wollte etwas ganz anderes erzählen.

Meine Nachbarn machen Lärm. Das scheint mir ihre Hauptbeschäftigung zu sein. Gerade jetzt im Sommer verbringen sie wie ich den Feierabend auf ihrer Terrasse hinter den bedrohlichen Thujamauern oder zumindest bei weit geöffneten Fenstern und sie sind dabei so laut, dass ich oft das Gefühl habe, sie stünden bei mir im Garten. Sie sind sich offenbar nicht bewusst, dass die Welt hinter ihrem kotzegrünen Eiseren Vorhang noch weitergeht. Die Nachbarn haben Kinder, ein großes Planschbecken und ein Klavier. Erstere sind kein Problem, denn ich kann zwischen vermeidbarem und unvermeidbarem Krach unterscheiden. Kinder sind immer laut, sogar wenn sie versuchen, leise zu sein. Das ist natürlich und normal und stört mich auch nicht. Anders ist das schon mit den endlosen Ermahnungs-Gardinenpredigten der Eltern, denn ihre Kinder sind offenbar weder ordentlich noch fleißig. Liebe unbekannte Nachbarn jenseits der Koniferen-Giftgrenze: Ich will mich nicht in eure Erziehungsmethoden einmischen. Aber Kinder sind ihren Erziehungsberechtigten nie ordentlich und fleißig genug. Trotzdem wird in der Regel aus ihnen etwas – auch ohne endlose, gebetsmühlenhafte Ermahnungen, die in ihre Ohren eindringen wie flüssiges Blei in Granit. Ich spreche aus Erfahrung. Die Kinder totschwätzen – das funktioniert nicht.

Aber ich bin tolerant und cool und geduldig wie ein Fliegenfischer. Nie würde ich einen Nachbarschaftstreit vom Zaun brechen. Sollen sie dort drüben wie die Heiden toben, sollen sie schimpfen, lachen und lärmen, sollen die fettigen Rauchschwaden ihrer Grillabende wie Nebel über meinen Blumenrabatten stehen – alles egal. Mich stört allein das Klavier, an dem jemand – ich mutmaße, die Mutter – an jedem Tag für ein bis zwei Stunden übt. Bei geöffnetem Fenster, versteht sich, denn jeder soll etwas von ihrem Hobby haben. Es hört sich an, als sei Richard Clayderman in die Nachbarschaft gezogen: Es ist keine Klassik oder Jazz, sondern weichgespülte Fahrstuhlmusik, die meine Ruhe stört. Wobei stören nicht das richtige Wort ist: Das Klavierspiel, dessen halbherzig angeschlagene Dreiklänge kristallklar über die grüne Hölle hinweg auf mein Grundstück schwappen, macht mich wahnsinnig, irre, psychotisch. Es raubt mir den Verstand und macht mich so zornig, dass ich über kurz noch jede zivilisatorische Tünche über dem Neandertaler in mir verliere. Ich ertappe mich bereits dabei, wie ich mich in blutrünstige Gewaltfantasien versteige, vor denen ich mich selbst fürchte. Mir geht es ein wenig wie dem harmlosen und friedfertigen Androiden in Alfred Besters lesenswerter Kurzgeschichte „Geliebtes Fahrenheit“, der bei einer bestimmen Temperatur (ab 33 °C) verrückt und zum mordenden Monstrum wird.

Ich höre gerne Musik, – ein Leben ohne Musik ist ebenso ein Irrtum wie eines ohne Bücher und  Möpse. Ich werde allerdings ungern zwangsbeschallt und dann noch ausschließlich mit einem einzigen Stück Fahrstuhlmusik. Ja, richtig: Frau Nachbarin ist da eigen. Sie hat diesen einen Musiktitel gefunden, den sie wieder und wieder und wieder und wieder und … wiederholt. Stundenlang, mit offenbar wachsender Begeisterung. Wahrscheinlich besitzt sie auch nur ein Buch – tausendmal gelesen. Anfänglich gelang ihr ihre Etüde nicht so gut undsie  stolperte sich langsam und zögernd an eine Stelle hin, an der sie regelmäßig scheiterte, ein Tempo- und Tonartwechsel in der Musik, den sie über Monate hinweg nicht meistern konnte, an dem sie sich aber unverdrossen immer wieder auf’s Neue versuchte. Inzwischen beherrscht sie ihr Stück jedoch einigermaßen flüssig, auch die technisch schwierige Klippe mittendrin. Frohgemut klimpert sie das Zwei-Minuten-Stück jeden Abend vor sich hin … immer und immer und immer und immer wieder. Und noch einmal. Ich sitze inzwischen meist mit Kopfhörer auf meiner Terrasse und betäube meine Ohren mit Black Sabbath, AC/DC und Metal. Jeder Tinitus klingt besser als das Klavierspiel der Frau Nachbarin.

Und langsam, ja, ganz langsam: I’m going slightly mad. Just very slightly mad.

Hehehe. Sudoku, Tuiachhecke, dadada … dam, dam. Dadada … dam, dam. Dadam.

Nachbarn

Und was treiben sie eigentlich da schon wieder hinter ihrer Gifthecke? Steht da nicht das Planschbecken ihrer Kinder?

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