9.
Sonntag.
Nacht
Martin Liebermann hatte keine Ahnung, ob Schiller oder Blücher oder wie er sonst heißen mochte, ihn verhungern oder verdursten oder an Langeweile sterben lassen wollte. Wahrscheinlich plante dieser Mann mit den martialischen Namen das alles zusammen.
Martin hatte keine Ahnung, wie sich andere Leute verhielten, wenn sie zwei Tage gefesselt auf einem unbequemen und harten Stuhl zugebracht hatten, aber er wünschte es nicht einmal seinem ärgsten Feind: Spätestens wenn die Nase juckt oder ein Fuß einschläft, wird es Folter und später dann, wenn sich die Blase und der Verdauungstrakt zu ihrem Recht melden, zur Qual. Inzwischen war er nicht mehr gesellschaftsfähig und saß weich und feucht in seinem Gestank. Er fand es erstaunlich, wie schnell er sich daran gewöhnt hatte.
Am ersten Tag waren es diese Probleme und die Langeweile. von denen Martin dachte, dass sie ihn umbringen würden, am zweiten hatte sich alle seine Gedanken auf den immer schlimmer werdenden Durst verlagert. Sein Mund war ausgedörrt und er spielte mit der Vorstellung, sich die Lippen blutig zu beißen, um ein wenig Feuchtigkeit auf der Zunge zu spüren. Allerdings fehlten ihm zu dieser Tat dann noch der Mut und die Verzweiflung.
Blücher hatte Liebermann am Samstagvormittag abgepasst, als er zu Haschek gehen wollte, um ihm von der Katastrophe bei seinem Einbruch zu berichten. Martin hatte ihm seine Schwulennummer abgenommen und sich auch noch – gutgläubig, wie er war – mit dem vermeintlichen Stefan Schiller an dem Haltestellendreieck an der Wertachbrücke verabredet. Der Detektiv hatte ihn mit einer in der Jackentasche versteckten Pistole gezwungen, ihm in sein nahes Büro zu folgen und Martins Respekt vor so einem Ding ließ ihn fassungslos gehorchen. In dem Detektivbüro, das im ersten Stock des Gebäudes über einem türkischen Brautmodenladen lag, klingelte es dann bei ihm und er muss wohl ziemlich dämlich drein gesehen haben. Schiller beziehungsweise Blücher führte ihn zielstrebig in den Lagerraum über seinem Büro. Hier wurden Jeans und Hemden in allen Größen und Farben gelagert. Die Tür öffnete Blücher mit einem Dietrich. Das ging ganz schnell, offenbar hatte er das schon häufiger gemacht. Mitten in dem staubigen, kaum erleuchteten Raum fesselte er Liebermann sorgfältig an einen Stuhl. Erst dann zeigte er ihm, dass er durchaus keine Waffe in seiner Jackentasche hatte, sondern nur einen großen Schlüsselbund. Blücher verließ Martin freundlich grüßend. Auf dessen Fragen ging er nicht ein. Die Tür verschloss er hinter sich wieder mit dem Einbruchswerkzeug. Naja, da saß Martin dann eben.
In dem Raum waren die Rollläden heruntergelassen und er war dadurch so abgedunkelt, dass Martin kaum einen Wechsel in den Tageszeiten bemerkte und sein Zeitgefühl verlor. Eine Weile beschäftigte er sich mit dem Versuch, seine Fesseln zu lösen, aber Blücher verstand etwas von Knoten und Verschnürungen. Dann entschied er sich, um Hilfe zu rufen. Es konnte doch nicht sein, dass er in dem Haus vollkommen allein war. Schließlich befand sich im Erdgeschoss ein kleiner Laden, aber auch diese Hoffung wurde enttäuscht. Martin schrie so lange, bis er vollkommen heiser war, dann gab er es wegen Nutzlosigkeit und Stimmenschonung wieder auf. In diesem Haus wollte – oder was wahrscheinlicher war – konnte ihn niemand hören. Es schien auch niemand daran zu denken. aus diesem Lager etwas abzuholen. So beschäftigte er sich eben mit meiner misslichen Lage, stelle Theorien auf, was da eigentlich mit ihm geschah oder zählte die vor ihm gestapelten Sweatshirts und Jeans, die alle billige Fernostkopien von Markenartikeln waren.
Das Schlafen ging erstaunlich gut, Martin hatte gedacht, es würde ihm in dieser Stellung schwerer fallen, Ruhe zu finden. Vielleicht half die Erschöpfung der langen Nacht zuvor, die ihm noch in den Knochen lag. Auf jeden Fall schlief er tief und lange in den Sonntag hinein. Es war ders Durst, der ihn schließlich weckte. Gegen Mittag war es dann so weit, dass er seine Seele gegen ein Glas Bier verkauft hätte. Und die ganze Zeit über hörte er Tropfen gegen die Fensterscheiben prasseln. Gegen Abend wurden die Regengüsse immer stärker und er wusste nun, wie Tantalus empfand.
Einmal ging im Nebenraum das Telefon. Es klingelte bestimmt zwanzigmal. Martins Herz schlug ihm bis zum Hals. Er lauschte bestimmt noch eine halbe Stunde atemlos in die Stille, die das Ende des Klingelns hinterlassen hatte und wartete vergeblich auf Rettung. Dann schlief sein linkes Bein ein und der wenige Bewegungsspielraum, den er mit ihm hatte. reichte nicht aus, die Taubheit aus ihm zu vertreiben. Martin befürchtete, es würde abzusterben, wenn ihn Blücher nicht bald befreite. Seltsam, dass es eigentlich nicht richtig schmerzte, das Bein nur ein dumpfes, taubes Gefühl aussendete, das langsam auch in die Hüfte kroch. Wo blieb der Kerl nur? Warum ließ er ihn hier so lange sitzen? Der Detektiv musste doch wissen. das Liebermanns Situation immer prekärer wurde. Blücher konnte doch wohl nicht vorhaben, ihn hier verdursten zu lassen! Er hatte Martin aus dem Weg haben wollen, wohl gleich für ein paar Tage. Gut, das verstand er, er war wahrscheinlich irgend einem Plan von Blücher im Wege. Aber wenn er ihn schon gefangen nahm und nicht gleich um die Ecke brachte, dann konnte er sich doch wohl um die Genfer Konventionen kümmern und ab und zu nach seinem Gefangenen sehen. Den Gedanken, dass Blücher Martin hier verschimmeln lassen könnte oder dass ihm draußen etwas passiert war, wollte er nicht akzeptieren, dazu erschreckte er ihn viel zu sehr.
Als sich Martin schon völlig der Verzweiflung übergeben hatte und und auf dem Stuhl in seinem Dreck zusammengesunken vor sich hin wimmerte und ab und an wie ein Geisteskranker plötzlich zynisch auflachte, wurde er durch den schrillen Lärm von brechendem Glas hochgeschreckt. Inzwischen musste schon die Nacht zum Montag angebrochen sein. Der Krach kam von unten und war von einem unterdrückten Fluchen begleitet, dessen Verursacher Martin sofort an seinem Augsburger Dialekt erkannte.
»Mein Gott, sind Sie ungeschickt. Warum rufen Sie nicht gleich die Polizei an!« Liebermann glaubte zuerst zu träumen oder in einem Dursttraum gefangen zu sein, aber es war eindeutig sein Freund Siegfried Goschad, den er da schimpfen hörte, kein Zweifel. Eilig rief er so laut er konnte um Hilfe und wurde nach dem dritten oder vierten Anlauf endlich erhört. Jemand rüttelte bei dem Versuch, die Lagertüre zu öffnen, an ihrer Klinke. Licht ging im Hausgang an und Martin sah eine breite, gedrungene Silhouette durch die Milchglasscheibe. Diese Umrisse waren nicht zu verkennen: Es war Heiner Haschek, der da vor der Tür stand. Kurz wunderte Martin sich, was die beiden hier zusammen machten. Dann hörte Martin wieder Goschad, dessen Schatten neben dem anderen auftauchte.
»Martin, das bist doch du, oder?«
»Siggi, Hilfe, ich bin hier gefangen!«
»Hören Sie, wenn Sie so gerne Türscheiben kaputt machen, hier steht Ihnen noch eine zur Verfügung«, sagte Goschad und drehte seine Silhouette zu dem dicken Haschekschatten.
»Vorsicht!« Das war der Architekt. Dann zertrümmerte Haschek mit dem Ellenbogen das Glas der Tür. Es war beeindruckend, wie die großen Scherben splitterten. Der Architekt, der sich jetzt vorsichtig durch den leeren Rahmen in den Raum zwängte, hatte einen Auftritt wie der Held in einem Action-Film. Martin hatte nie geglaubt, dass ihn der Anblick des dicken Mannes so freuen würde. Noch am Vormittag hatte er sich mit der Vorstellung unterhalten, ihn auf kleiner Flamme zu rösten.
Goschad drängte sich hinter Haschek herein und trat unachtsam auf die Scherben zu seinen Füßen, die unter seinem Gewicht mit einem scharfen Knall barsten, Angst, wegen ihrem Lärm Aufmerksamkeit zu erregen, schienen beide nicht zu haben. Aber sie hatten natürlich recht: Das Haus war leer und wenn niemand auf Martins Schreien reagiert hatte, dann musste auch das Zerspringen von Glas nicht weiter auffallen. Die beiden unverhofften Retter bauten sich vor dem Gefesselten auf und versuchten, sich an die Dunkelheit im Lager zu gewöhnen. Haschek rümpfte unangenehm berührt die Nase, wich wieder ein paar Schritte zurück. Er hatte wirklich keinen Grund, sich so zu benehmen, fand Martin, denn er sah aus wie ein Penner: Er war vollkommen vom Regen durchnässt und seine Hosen dreckig. Der Architekt hätte sich ein Beispiel an Goschad nehmen sollen, der jetzt mit einem Feuerzeug für ein wenig Licht sorgte und sich nach einem Lichtschalter umsah: In seinem Lammfellmantel sah er so elegant und gepflegt wie immer aus. Ihn störte dennoch Martins zugegebenermaßen unappetitliche,. aber unbeabsichtigte Selbstbefleckung in keiner Weise, zumindest ging er mit keiner Geste darauf ein. Goschad fand einen Schalter und kurz blinzelten alle drei, bis sie sich an den grellen Schein der nackten Glühbirnen, die von der Decke hingen, gewöhnt hatten. Dann holte Goschad ein Schnappmesser aus der Hosentasche und löste Martins Fesseln. Sein Blutkreislauf war lange unterbrochen gewesen und er fühlte mich so schwach, dass ihn Goschad unter die Arme fassen und heben musste. Martin schrie vor Schmerzen, als er seine Beine wieder spürte. Hätte sein Freund ihn nicht gestützt, wäre er eingeknickt.
»Du bist etwas derangiert«, sagte Goschad und unterbrach den Redefluss von Haschek, der die ganze Zeit von irgendwelchen Morden erzählt hatte. Martin hatte ihm nicht zugehört. »Komm, wir gehen runter in das Büro von Blücher. Dort wird auch ein Bad sein, wo du dich waschen kannst. Glaubst du, es geht?« Martin dachte an die Indianerfilme, die er als Kind gesehen hatte und nickte mit zusammengebissenen Zähnen. Goschad musterte ihn zwar skeptisch, aber er ging vorsichtig und langsam ein paar Schritte mit ihm hin und her. Es war furchtbar, es war, als würde Martin über glühende Kohlen gehen. Dann wand sich Goschad an den hilflos zusehenden Architekten:
»Nehmen sie ein Sweat-Shirt und eine Jeans mit, unser Freund benötigt ein paar Kleidungsstücke.«
»Beide in Schwarz, wenn möglich. Das ist meine Farbe«, fügte Marin mit Galgenhumor hinzu. Er spürte eine große Sympathie für seinen Freund. Dessen praktische Veranlagung war genau das, was er jetzt brauchte, um wieder einigermaßen in Form zu kommen.
Schritt für Schritt brachte Goschad ihn hinunter in Blüchers Büro. Martin hatte inzwischen mitbekommen, dass er vor Hascheks Augen umgekommen war. Er konnte nicht behaupten, dass ihm diese Nachricht im Moment besonders nahe ging. Anders Haschek: So geschwätzig, wie er war, schien es den Architekten ganz schön getroffen zu haben. Er war gerade dabei, einen sentimentalen Abriss seiner Lebensgeschichte von sich zu geben. Martin konnte nicht sagen, ob ihn mehr Hascheks Gerede oder die Schritte die Treppe hinunter quälte. Er konnte allerdings nach jeder Stufe ausruhen, während der Architekt nicht gewillt war, eine Pause zu machen. Wie Martin mitbekam, schien er einen ziemlich wüsten Verdacht gegen ihn gehegt zu haben. den er aber inzwischen zerknirscht bereute. Er war augenfällig darum bemüht, von Martin eine Entschuldigung zu erlangen und schien sogar so etwas wie ein schlechtes Gewissen zu haben. Wenn das bei einem Mann wie dem Architekten überhaupt möglich war
Die Tür von Blüchers Büro sah so aus wie die von dem Jeanslager. Goschad führte Martin zu einer Toilette in den Räumen des Detektivs. Dann ließ er ihn los. Martin wankte und musste mich am Waschbeckenrand halten.
»Also, mach dich sauber«, sagte er. »Wir werden inzwischen das tun, wegen dem wir eigentlich gekommen sind: Ein wenig die Unterlagen von dem Detektiv untersuchen. Denn das hier ist nur sein Büro. Weißt du zufällig, wo Blücher wohnte?«
»Nein, ich weiß gar nichts. Bei mir ist eh schon lange der Faden gerissen.«
»Macht nichts. Ich erzähl’s dir, wenn du wieder ein wenig frischer bist. Haschek weiß auch nicht, wo der Kerl gewohnt hat.«
»Aber Judith muss es wissen, sie hatte schließlich ein Verhältnis mit ihm«, sagte der Architekt und warf die Kleidung, die er hatte mitgehen lassen, auf das Waschbecken. Er schien Martins Gesichtsausdruck richtig zu deuten, denn er fuhr fort:
»Entschuldigung. Aber Sie müssen doch gewusst haben …«
»Schlucken sie es runter«, sagte Martin so beiläufig, wie es ihm möglich war und schloss die Toilettentür vor den beiden. Sie war aus Milchglas. Anscheinend gab es in dem Haus nur solche Türen. Es war kein Fenster in dem Raum, also machte er das Licht über dem Badezimmerspiegel an und begann, sich zu säubern. Es war seltsam, wie sehr ihn die Worte von Haschek verletzt hatten. Er hatte immer geglaubt – ja, er war felsenfest überzeugt gewesen -, dass er nur wegen ihrem Geld mit Judith zusammen war. Obwohl er gewusst hatte, dass er nicht Judiths einziger Liebhaber war, war die Entdeckung, sie mit Blücher geteilt zu haben, schmerzlich. War das verletzte Eitelkeit oder war es Liebe? Sollte er sich ausgerechnet in dieses Luder verliebt haben, das jeden nur benutzte? Oder war sie nicht doch besser als ihr Ruf, ihre unnahbare Art nur ein Schutz? Auf jeden Fall wusste Martin, dass ihn auch der Gedanke an sie während seiner Gefangenschaft aufrecht gehalten hatte.