Nikolaus Klammer Erzählung,Literatur,meine weiteren Werke,Zyklus Heilende Wasser – Erzählung (1)

Heilende Wasser – Erzählung (1)

Für Hans-Dieter Heun,
ich denke, die Geschichte wird ihn erfreun‘.

Heilende Wasser

Erzählung aus dem Zyklus
»Jahrmarkt in der Stadt«

Dr. Ereban Pendell räusperte sich. Wie er befürchtet hatte, füllte sich seine Mundhöhle sofort mit einer Masse von schleimiger, gallertartiger Beschaffenheit. Vorsichtig stieß er mit seiner Zunge in die Mundvoll Auswurf, die ihm wie eine lebendige Qualle Widerstand leistete. Der Geschmack war bitter, salzig. Pendell hätte nun die ekle Masse einfach wieder herunterschlucken, der Magensäure und einem nachgekippten Asbach überlassen können. Aber er fürchtete sich plötzlich. Und Ungewissheit konnte er nicht ertragen.

Vorsichtig sah sich der Erfolgsautor in dem kleinen Café Rosengarten um. Nur wenige Menschen saßen hier unter verstaubten Nolde-Drucken und sinnierten weinerlich über ihren Porzellantassen und traurigen Kuchenresten. Der übermotivierte, allzu freundliche Kellner war wahrscheinlich ein Import aus dem nahen Österreich. In diesem Lokal der misanthropen Trauermienen war er so überflüssig wie ein Glühweinstand in der Wüste. Aber auch der Kellner hatte endlich vor der teutonischen Einsilbigkeit und Unfreundlichkeit kapituliert und war schulterzuckend mit dem hübschen Mädchen vom Torten-Buffet auf eine Zigarettenlänge in der Küche verschwunden. Pendell konnte es also wagen, einen Blick auf seinen Auswurf zu riskieren. Er öffnete die bunte, dünne Papierserviette, die er zu seinem Kaffee erhalten hatte und führte sie mit beiden Händen zum Mund. Während er tat, als würde er sich über die Lippen wischen, spuckte er so geräuschlos wie möglich in das weiche Papier.

Dann rückte er mit dem Oberkörper zurück. Noch einmal warf er einen eiligen Blick ins Rund. Dann sah er auf die Serviette. Er hatte es befürchtet: Den gallegelben Schleim aus seinen Bronchien krakelte ein dünner Faden Blut. Pendell nickte. Er konnte seinen Blick nicht von diesem Menetekel nehmen.

„Noch einen Milchkaffee, der Herr? Und vielleicht ein Teilchen dazu?“

Der Doktor zuckte zusammen, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Er sah auf, wollte verneinen. Der Kellner stand so plötzlich halb hinter ihm, als sei er an dieser Stelle aus dem Erdboden gewachsen. Und er hatte nach seiner professionellen Frage jedes Interesse an seinem Gast verloren. Seine Augen ruhten träumend auf der Serviette in Pendells Händen. Hastig knüllte der Doktor das dünne Papier zusammen und schob seine Hände unter den Glastisch, als könne er sie dort verbergen. Sein zäher Auswurf matschte sofort durch die Zellulose und drang durch seine zur Faust geballten Finger. Der Kellner verfolgte wortlos Pendells hilflosem Versuch, seine Krankheit zu unsichtbar zu machen. Für einen Moment sah sich der Autor vergeblich nach dem Mauseloch um, in dem er sich verkriechen könnte.

Dann sprang endlich seine Routine ein.

„Nein, nichts Süßes. Bringen Sie mir aber bitte noch einen Espresso“, sagte er ruhig, während er lässig das versudelte Papier in der Tasche seines Jacketts verschwinden ließ.

„Und einen Asbach“, ergänzte er. Der Kellner machte eine leichte Verbeugung und wand sich eilig ab. Pendell sah ihm nachdenklich hinterher. Dann wischte er seine Hände am Polster des Stuhls neben sich ab. Aber dieser Reinigungsversuch gelang nur unzulänglich. Er würde sich die Hände waschen müssen.

‚Der hat in der Küche jetzt etwas zu erzählen‘, lächelte er in sich hinein. Aber vielleicht war er auch an solche Anblicke gewöhnt. Schließlich verdiente der Kellner seine Brötchen in Bad Sinding, dem niederbayerischen „Sun City“. Das war ein Luft- und Badekurort, in dem schon ein Mann Ende Vierzig wie Pendell scheel und neidvoll angesehen wurde. Er hatte das Durchschnittsalter von Sinding um ein paar Jährchen herabgesetzt, als er gestern trotz des eher kühlen Frühsommertages mit heruntergelassenem Stoffdach in seinem Mercedes SL 500 das Ortsschild passierte. Schon während der kurzen Strecke zum Rottaler Hof hatte er bedauernd registrieren müssen, dass es in Sinding wahrscheinlich keine Leser gab und nur wenige Frauen, denen er sein Ölbild zeigen wollte*.

Heute beim Frühstück im Hotel war am Nebentisch eine alte Dame kollabiert und vom Stuhl gekippt. Das an solche Geschehnisse gewöhnte Personal hatte einen Notarzt gerufen, der so schnell kam, als hätte er seine Praxis in der Lobby des Rottaler Hofes eingerichtet. Er holte sie vor Ort mühsam wieder ins Leben zurück, bevor Sanitäter sie auf eine Trage wuchteten und aus dem Speisesaal transportieren. Währenddessen aßen die anderen Kurgäste seelenruhig weiter; auch die Kurgäste, die mit der alten Dame an einem Tisch gesessen hatten. Sie schmierten ihre Marmeladenbrötchen und bestellten ihre Kaffeekännchen, holten sich üppige Portionen Eier und Speck vom Buffet. Der Tod war offenbar ein vielbeschäftigter Mann in Sinding. Das Kunststück war, ihn zu ignorieren. Auch der Kellner, der jetzt Pendells Bestellung brachte, wirkte nicht weiter aus der Bahn geworfen. Er lächelte noch breiter und freundlicher als vorher.

„Zum Wohle, Herr Professor.“ Der Kellner war eindeutig österreichische Importware.

Pendell nickte abgelenkt. Während er eilig am Weinbrand nippte, fragte er sich erneut, was er hier eigentlich tat. Dabei war ihm durchaus bewusst, was er hier machte: Sein Hausarzt hatte ihn nachdrücklich zu einer Kur überredet und er wollte die Gelegenheit nutzen, an seinem Buch über die außerirdischen Kontakte der Inkas weiterzuarbeiten. Die Frage musste eigentlich lauten, was er ausgerechnet hier machte. Wobei er nicht das Café Rosengarten selbst im Sinn hatte, in das ihn bei seinem ersten sondierenden Spaziergang über die Kurpromenade ein aufforderndes Augenzwinkern der attraktiven Verkäuferin hinter der Theke und Mozartklänge gelockt hatten. Inzwischen lief im Hintergrund das traumhaft schöne Allegretto grazioso aus dem Notturno in D-Dur (K. 286).

Nein, die Frage war, warum er nicht wie jede Ostern in der Villa seines Verlegers auf Sylt war, sondern ausgerechnet in Bad Sinding Urlaub machte. Der Kurort war nur fünf Kilometer von Allmannsöd entfernt, einem gottverlassenen Misthaufen von Dorf, in dessen Weichbild er in den frühen Siebzigern aufgewachsen war. Auch für diese Frage gab es eine Antwort, nämlich den kurzen Brief, den er in der Jackentasche trug, in der er eben verschämt die besudelte Serviette verborgen hatte. Aber auch diese Antwort befriedigte ihn nicht. Sie war nur eine halbe Wahrheit. Und halbe Wahrheiten, das war Pendell durch seine Arbeit nur allzu deutlich, auch wenn es ein paar logischen und mathematischen Axiomen widersprach, waren ganze Lügen.

Er seufzte erneut, ließ den Schwenker kreisen und leerte das Glas. Dann sah er sich nach dem Kellner um, denn er sehnte sich nach seinem Hotelzimmer und einem heißen Bad. Er würde auch später in der Therme die ersten Anwendungen über sich ergehen lassen müssen. Natürlich, wenn es ums Zahlen ging, war der Kerl wie vom Erdboden verschluckt. Das hübsche Mädchen von der Kuchentheke, wegen der er eigentlich im Café Rosengarten saß, war auch noch nicht aufgetaucht. Wahrscheinlich standen beide erneut im Hinterzimmer und schäkerten.

Die Wiener Klassik schwieg. Stattdessen waren sterbenslangweilige sphärische Klänge zu hören. Ein Synthesizer ahmte Wind, Wellen und Vogelgesang nach, dann eine Harfe. Klaviergeklimper à la Richard Clayderman setzte ein und suchte vergeblich nach einer vernünftigen Melodie. Pendell kannte diese Belästigung gut, diese die geistige Gesundheit gefährdende Luftverschmutzung, die sich als Musik ausgab und ihn immer wieder eiskalt von hinten überrumpelte. Diese somnambulen, auf die Dauer verblödenden Klänge war das universelle Hintergrundgeräusch der Hotelfahrstühle, der Restaurants, Wellness-Oasen und Sauna-Anlagen überall auf der Welt. Wohin Pendell auch kam, diese CD war anscheinend schon vor ihm da. Ob der süßlich klebrige Gehörkleister Teil einer Verschwörung gegen ihn war?

‚Darüber sollte Ereban S. Pendell mal ein Buch schreiben‘, dachte er. Der Autor schob entschlossen den unbequemen Metallstuhl zurück und stand auf. Ihm war ein wenig schwindlig. Ob bereits der Alkohol Wirkung zeigte oder sein Blutdruck durch Koffein und Alkohol mal wieder zu hoch war, wusste er nicht. Vorsichtig machte er einen Schritt vorwärts. Alles war im grünen Bereich, der Schwindel ließ nach. So ein kleiner, blutiger Auswurf konnte doch einen starken Mann wie ihn nicht aus der Bahn werfen. Auch wenn er noch immer schmutzige Hände von ihm hatte. Er suchte unternehmungslustig nach dem Durchgang, der zur Toilette führte. Bei dieser Gelegenheit konnte er gleich auch noch nach dem verschwundenen Kellner sehen. Dabei fiel ihm auf, dass ihn die anderen Gäste des Rosengartens verstohlen und misstrauisch aus ihren beleidigten, abweisenden Rentneräuglein abschätzten, aber sofort mit dem wässrigen Blick zur Seite rutschten, wenn er versuchte, ihn zu erwidern. Ganz offensichtlich passte solch ein aus ihrer Sicht geradezu rücksichtslos junger Mann wie Pendell nicht in ihren Kurort, ihr Refugium, das nur von kränkelnden Gästen und Personal bevölkert sein durfte.

Der Autor schüttelte den Kopf und eilte auf die Toilette, in der er der „Musik“ selbstverständlich nicht entkam. Sie drang dort sogar noch lauter aus den Boxen. Wer war eigentlich als erster auf die blödsinnige Idee gekommen, man bräuchte auf einem WC hockend Musikuntermalung? Hoffentlich lief in dem Fegefeuer, in dem dieser Erfinder brutzelte, diese CD in Dauerschleife.
Wie sollte Pendell es hier nur zwei volle Wochen aushalten? Egal, wie dringend er Ruhe und Erholung benötigte: Die hätte er auch an der Nordsee oder in den Schweizer Bergen gefunden. Der salzige Meerwind, der über die Sylter Strände pfiff oder die Höhenlage von St. Moritz hätten seiner angegriffenen Gesundheit und seiner Lunge bestimmt besser getan als die niederbayerische Begrenztheit von Sinding, das von sich selbst als das „Bäuerliche Bad“ Werbung machte. Hier roch es sogar auf der Toilette muffig und medikamentenscharf nach alten Menschen und Geriatrie! Das überdeckte auch keine esoterische Klavierstümperei.

Pendell stutzte. Nein, der gammelige Geruch, den er in der Nase hatte, entströmte nicht den Kabinen, sondern dem Waschbecken, an dem er stand. Es dünstete nicht aus der neutralen Cremeseife, sondern direkt aus dem Wasserstrahl, unter dem er sich gerade gründlich die Hände reinigte. Er beugte sich vor und schnüffelte, dabei die Stirn runzelnd: Eindeutig, dieser unangenehme Gestank war im Leitungswasser. Es roch nicht wie die berühmten Thermalquellen des Ortes nach Jod und Eisen, sondern eindeutig nach faulen Eiern und Gülle. Eilig schloss Pendell den Wasserhahn und hob die Hände unter das Trockengerät neben der Tür, rieb sie länger als nötig unter der Heißluft trocken. Dann roch er an ihnen. Der Geruch hing nur noch ganz schwach an seinen Händen. Er sah kopfschüttelnd zurück zum Waschbecken. Hoffentlich brühten sie hier nicht den Kaffee mit diesem Wasser auf!

Draußen vor der Toilette wand sich Pendell nicht zurück zum Gastraum, sondern ging eine Tür weiter, hinter der er die Hinterräume des Rosengartens vermutete. Richtig, hier war die Küche. Hier fand er auch den Kellner und das Mädchen vom Kuchenbuffet. Die beiden waren so konzentriert miteinander beschäftigt, dass sie ihn nicht bemerkten. Ihre Beziehung war fortgeschrittener, als es der Autor erwartet hatte. Die hübsche junge Frau hatte ihr kurzen kurzen schwarzen Rock hochgezogen und saß auf der Edelstahlplatte einer Anrichte. Mit ihren Beinen umschloss sie das nackte Hinterteil des Kellners, der sich mit heruntergelassener Hose halb über sie beugte und hektische Bewegungen mit dem Unterleib vollführte. Das Mädchen sah gedankenverloren an seinen Schultern vorbei an die Decke und jammerte kaum hörbar. Überhaupt ging der ganze Akt in bemerkenswerter Stille vor sich und wirkte in dem seltsamen Halbdunkel des Raums grobkörnig und slapstickhaft. Pendell hatte das Gefühl, ihm würde ein alter, ausgeblichener Super-8-Porno vorgeführt.

Eine feine Nadel stach in sein neidisches Herz. Aber Pendell zog sich eilig zurück, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Ein Spanner, nein, das war er noch nicht. So tief war er noch nicht gesunken. Achselzuckend kehrte er zu seinem Platz zurück und setzte sich. Lange konnte das Ganze ja nicht mehr dauern. Wie wohl die anderen Gäste reagieren würden, wenn sie wüssten, was in der Küche vor sich ging, während sie schweigend ihre Sahnetorten verzehrten? Pendell lachte laut und zog wie ein Magnet alle Blicke auf sich. Das Lachen befreite ihn. Er fühlte sich wie ein junger Stier unter einen wiederkäuenden Herde alter Milchkühe.

Vielleicht würde sein Kuraufenthalt in Bad Sinding doch nicht ganz so langweilig werden.

[Auch hier gilt: Ich werde die Erzählung fortsetzen, wenn jemand das wünscht oder ich Lust dazu habe.]

__________________

*siehe: Die Lichtung, Erzählung
Hier erlebt E. R. Pendell sein erstes Abenteuer.

8 thoughts on “Heilende Wasser – Erzählung (1)”

  1. Iiiiih, eklig, aber was kann man auch groß von einem hin und her schwingenden Pendell erwarten … außer Wahrheit und nichts als Wahrheit. Dennoch frage ich mich: War Pendell in einem frühreren Beruf möglicherweise ein Eismann?

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