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Fahrkarte – Vier

gestern das gerade nicht oder alles ist gestern erklären was vorher war die namen sind genannt nun sollen sie auch leben

Es war in den Wochen, während denen Ruth sich für das alte Ägypten interessierte. Sie hatte eine Ausstellung gesehen und die ART-Hefte in der Wohnung durch NATIONAL GEOGRAPHIC ersetzt.

Helmut saß mit seiner Frau im Wohnzimmer. Der Fernseher lief. Ihn interessierte nicht das Programm. Aber er hatte gerne eine Geräuschkulisse, wenn er Kreuzworträtsel löste. Dann kam es ihm nicht ganz so sinnlos vor, seine Zeit auf diese Weise zu verschwenden.

Ruth saß ihm gegenüber, warf ebenfalls keinen Blick auf den Apparat und studierte ein Buch. Plötzlich stutzte sie, sah auf und fragte:

„Wusstest du, dass Kanzler Sennemut ihr Geliebter war?

„Wessen Geliebter?“

„Na, der von Hatschepsut. Mit ihrem Architekten hatte sie auch was.“

Helmut betrachtete seine Frau stumm. Kam noch was? Nach einer längeren Pause kehrte er zurück zu seinem Rätsel. Er blätterte verstohlen nach der Lösung.

„Das wäre ein Leben für mich gewesen.“

Helmut zuckte zusammen, fühlte sich ertappt. Ruth nickte. Ihr stand der Unwille über seine Interesselosigkeit ins Gesicht geschrieben. Weil er ihrem strafenden Blick ausweichen musste, sah er zum Fenster. Er bemerkte den vertrockneten Efeu, der an einer Ampel von der Decke hing. Helmut entschied sich, abzulenken, selbst aggressiv zu sein.

„Warum gießt du den Efeu nicht?“

Ruth war nur kurz verwirrt.

„Ich gieße ihn jeden zweiten Tag“, stellte sie entschieden fest, mit einer Prise beleidigtem Vorwurf in der Stimme.

„Ach, ja? Ich finde, er ist vertrocknet. Ich glaube dir nicht, dass du ihn so oft gießt. Schau ihn dir doch an. Übergossen sieht er wirklich nicht aus.“

„Mehr als wässern kann ich ihn nicht.“

Das Wort ‚wässern’ war ihr Sieg. Hätte sie noch einmal ‚gießen’ gesagt, wäre das Ganze lächerlich geworden. Helmut schämte sich. ‚Wässern’ war ihm nicht eingefallen. Ruth war ihm wie immer überlegen. Weiter zu machen, wäre kindisch und rechthaberisch gewesen.

Er zog die Augenbrauen hoch, daran erinnerte er sich genau. Dann warf er Ruth die Rätselzeitschrift an den Kopf. Zumindest versuchte er es, aber die Reaktion seiner Frau war schnell. Helmut ärgerte sich, nicht getroffen zu haben. Das machte auch noch diese Geste lächerlich. In dem Buch von Martin Walser, das er kürzlich gelesen hatte, war dem Helden die gleiche Tat gelungen. Ihm musste natürlich alles missglücken. Selbst bei einer simplen Gewaltausübung versagte er. Die harte Kante der Zeitschrift hätte Ruth an der Stirn treffen müssen. Die Stelle hätte zumindest rot anlaufen sollen, einen Bluterguss bilden. Am besten wäre es natürlich gewesen, Ruth hätte geblutet. Das wäre der Situation angemessen dramatisch gewesen. So wie es nun war, mit der Zeitschrift auf dem Boden zwischen ihnen, wirkte alles nur operettenhaft.

Helmut blieb tapfer sitzen, wartete auf ihre Reaktion. Noch konnte etwas geschehen. Wenn sie jetzt nur nicht lachte. Ruth stand auf, ihr Gesicht machte kurz den Eindruck, als müsse sie sich ein triumphierendes Lächeln verkneifen. Dann sagte sie langsam:

„Ich glaube, du gehst. Ich kann dich nicht ertragen.“ Sie wendete sich mit gekonnter Drehung ab, schließlich hatte sie einmal in einer Laienspielgruppe die Ophelia gegeben und beendete ihren Auftritt mit der knallenden Tür des Schlafzimmers.

Helmut murmelte trotzig, er hinge eben an seinem Efeu, es schmerze ihn, wenn er so vertrockne, verdammt. Aber er ging gehorsam in den Gang und zog seine Schuhe an.

Obwohl er keine Lust dazu hatte und sich vor dem verkaterten Morgen fürchtete, betrank er sich. Spät in der Nacht kehrte er polternd heim. Ruth hatte ihm ein Lager im Wohnzimmer gemacht und die Tür zum Schlafzimmer abgesperrt. Helmut versuchte, vor der Tür möglichst laut stöhnend zu masturbieren. Aber es misslang ihm gründlich. Ihm wurde übel und er übergab sich im Flur, bevor er die Toilette erreicht hatte. Dann wankte er zu seiner provisorischen Bettstatt. Der beißende und saure Geruch, der ins Zimmer zog, hinderte ihn lange am Einschlafen.

schlapper kerl versager säufer niete impotente pflaume wir hatten das schon aber seien wir ehrlich seien wir uns einmal bewusst: die anderen die mutigen die gibt es doch nur in unserer fantasie, in den romanen des 19. jahrhunderts.

ich frage mich ob man mir wohl anmerkt wenn ich eigentlich keine lust mehr habe oder gerade nicht in stimmung oder ideenlos oder was weiß ich auch diesmal ist der text nicht gerade einfallsreich vielleicht sogar ein wenig zu melodramatisch. Außerdem sitzt Helmut auf einem Hocker gegen die Theke gelehnt.

Das Lokal war gut besucht. In einer Ecke spielten zwei Jugendliche ausdauernd an einem blinkenden und piepsenden Flipperautomaten. Zwei Professionelle saßen neben Helmut auf ihren Hockern und bemühten sich, ihre abgegriffenen Reize ins Licht und die Falten in den Schatten zu rücken. (Später wird eine mit einem Gast den Ausschank verlassen, aber nach etwa fünf Minuten ist sie wieder da.)

Helmut war der einzige im Lokal, der alleine saß. (Mal abgesehen von dem, der gleich mit der Nutte rausgehen wird und jetzt damit beschäftigt ist, sie zu taxieren. Er sieht aus, als würde er im Geiste sein Geld zählen.)

Alle anderen kannten sich und unterhielten sich lautstark. Nirgendwo hatte Helmut eine Chance zum Einsteigen, er saß auf seinem Hocker wie im Auge eines Sturms. Gut, er war hier nicht richtig, aber er war nicht mehr fähig, aufzustehen. Vielleicht kam ja noch jemand herein, dem er sein leid klagen konnte. Mitleid, das brauchte er jetzt denn sein selbstmitleid reichte nicht mehr aus.

Helmut nippte an seinem Bier ihm fiel auf wie stark seine Hand zitterte übrigens nur die linke mit der er das Glas hielt. Er stellte es wieder auf den Bierdeckel und verschüttete dabei etwas von der braunen Flüssigkeit sie färbte den Filz dunkel. Um das Zittern zu unterbinden spreizte er die Finger drückte die Handfläche gegen das lackierte Holz des Tresens zwinkerte riss die Augenbrauen hoch und stierte auf den Handrücken an dem die Adern fleischig hervortraten sie vibrierten.

Helmut bestellte einen Klaren, kippte ihn schnell hinunter. Dabei benutzte er seine Rechte, die ohne Symptome war. Das Vibrieren der dunklen Venen seines linken Handrückens ließ nicht nach aber ein warmes Gefühl machte sich im Magen breit er genoß es.

Helmut trank einen zweiten Schnaps, diesmal einen doppelten das zittern verschwand so schnell, wie es gekommen war er fühlte sich leicht und lehnte sich zurück dabei fiel er fast hinterrücks vom hocker. er sah sich um ob jemand ihm bemerkt hatte die beiden flipperspieler studierten ihn aufmerksam er lächelte ihnen zu sollen sie doch denken und jetzt überschwemmte ihn sein schwindelgefühl er hatte es vermißt. die welt wirkte verschoben verschroben klein verzerrt als würde die luft das licht wie wasser brechen vielleicht aber ist das erst die wirkliche art die welt zu sehen das ist ein fröhlicher gedanke wir schwimmen in dickem dunst und mir ist nicht mehr kalt.

Helmut kicherte in sich hinein, bestellte einen dritten, dann einen vierten Klaren. Er zählte die Minuten, die der Gast mit der Prostituierten draußen im Freien verbrachte.

Ein flinker Junge, dachte er. Die Nutte kehrte allein zurück, sie brachte Kälte in den überheizten Schankraum.

Fassen wir zusammen: Galilei wurde vor der Inquisition nicht für seine kosmologischen Thesen angeklagt. Sie erschütterten das katholische Weltbild nicht. Die Goldene Regel des Jesuiten lautete: Du wirst deinen Gegner auf seine Grundsätze reduzieren, wenn du das Wahre zeigst, dann wende die herabsteigende Methode an, das heißt, argumentiere vom Hohen zum Niedrigen, aber wenn du das Falsche angreifst, dann verwende die aufsteigende Methode, und wenn du es mit einem hartnäckigen Gegner zu tun hast, dann kannst du die Reduktion ad absurdum führen. Seine Häresie war eine andere.

helmut sah sich um und nach und nach verließen die gäste das lokal. Auch die Jugendlichen am Flipper war ja schon spät und der wirt begann aufmerksam seine gläser auszuwaschen anscheinend anscheinend war in dieser kleinstadt das leben um mitternacht vorbei helmut jetzt wird es auch für dich zeit schob er sich vorsichtig vom hocker. Stand stolz. Niemand wankte der nicht der nicht und helmut auch nicht.

Dafür fiel ihm jetzt Beuerle wieder ein. Es war die nachdenkliche Art, mit der der Wirt ein Glas gegen das Licht hob und auf Wasserflecken untersuchte. Genau so prüfte Beuerle die Qualität von Rotwein und einen verdächtigen Geldschein. Beuerle verstand etwas davon – sagte er – von Rotwein, nicht von Geldscheinen. Helmut konnte nicht beurteilen, ob das stimmte. Aber beuerle lügt doch nicht da hat er keinen grund aber kann man es wissen vielleicht hat auch der Beuerle große rosinen ich mein im kopf will er seine vorgesetzten das kann schon sein mit weltmännischem betragen will er sie beeindrucken.

Der Wirt stand erwartungsvoll vor Helmut, der ihn aufmerksam musterte. Die augen mit denen stimmt was nicht mit den augen der wirt witz schliert nach rechts weg einen schritt zur seite steh doch still wirt du jetzt erkenn ich dich ich muß lachen bist du beuerle gut verkleidet aber mich kannst du nicht täuschen.

Ich entlarve dich nehm deine nase weiches rotes zeug zieh sie dir lang, beuerle ich bin sam spade.

Beuerle du sagst was hä? Dein mund öffnet sich jetzt ist er zu ich nicke einfach mal so wird schon stimmen beuerle nicht hast ja recht ist spät geworden du willst schließen ich soll zahlen dann gehen wir.

Helmut zog zitternd einen Zwanzig-Euro-Schein aus der Tasche, doch der Wirt bedeutete ihm, die Zeche sei höher. Helmut stutzte.

Nein, nein beuerle du irrst dich wieviel hatte ich der teuro aber zwanzig teuro sind doch vierzig mark du irrst ich hatte drei klare und das bier vier? Einer war doppelt geht der nicht auf’s haus geiznickel lumpenpack! Seit wann ist bier so teuer du. Fünf klare ich glaube du kannst nicht zählen den sekt für die mädels hab ich doch nicht bestellt willst mich bescheißen du. Beuerle ist nicht nett warte nur das sage ich.

Helmut kramte einen weiteren blauen Schein hervor und knallte ihn auf den Tresen. Er wartete eine Weile vergeblich auf Wechselgeld.

Wird dann wohl so stimmen ich vertrau dir. Ich geh dann mal.

Er wankte ich flog mein junge ich flog zur Tür. Halt ich muss doch noch zeigen ich habe deine maske durchschaut.

„Bis Montag, im Büro“, sagte Helmut und beeilte sich flog junge flog raus aus dem lokal ich will beuerle nicht beschämen.

Es regnete. Helmut wand den Kopf zur Seite, zur Straßenlampe und sah die zwei Jugendlichen. Sie kamen näher. Schmerzen fühlte Helmut nicht. Er bemerkte Hände, die seinen Körper untersuchten. Da lag er schon am Boden. Er blutete, machte eine abwehrende Bewegung. Eine weitere Ohrfeige klatschte in sein Gesicht. Dann hörte er schnelle Schritte, und dann

Seltsame ruhe endlich schweigen ein augenblick der länger währt der besinnungslose moment der krug kippt um schweigen


Helmut schleppte sich mühsam auf dem regennassen, überfrierenden Asphalt in eine Ecke.

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