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Gartenimpressionen (5)

Das am häufigsten kopierte und parodierte Gedicht deutscher Sprache ist der “Herbsttag” von Rainer Maria Rilke. Es ist so etwas wie eine kulturelle Basis geworden, auf der jeder sicher stehen und mitreden kann. So sprichwörtlich zu werden, schafften nur wenige Klassiker und Romantiker und in der Moderne eben nur Rilke. Das liegt wahrscheinlich daran, dass es neben dem “Panther  im Jardin des Plantes” das am leichtesten verdaulichste, erbaulichste und allgemein verständlichste und nachfühlbarste Gedicht des großen Lyrikers ist. Auf der hinteren, von den Lesern gestalteten Seite der ZEIT habe ich bereits gefühlte tausendmal eine Variante von “Herr, der Sommer war groß” lesen müssen.

In diesem Jahr war der Sommer winzig klein. Er verschwand als lächerliche und schwächliche Kopie des Winters 2013 zwischen den großen Jahreszeiten dieses Jahres. Wir hatten einen frühen, sonnigen Frühling und einen gewaltigen Herbst. Er dauert noch an. Die Natur in meinem Garten weigert sich beflissen, ihrem unausweichlichen Schicksal in die Augen zu sehen, zu verdorren, zu verfaulen, sich ihr tristes, fahles Novemberkleid überzuziehen. Um das zweite große und nicht ganz so breitgetretene Herbstgedicht des 20. Jahrhunderts zu zitieren: “Komm in den totgesagten Park und schau“. Noch ist er putzmunter. Die zwei letzten Blüten meiner letzten Sonnenblume sehen hochnäsig auf ihn herab:

sonnenblumen2

Auch ich besitze einen Ginko. Ursprünglich wollte ich aus ihm einen Bonsaibaum machen und er fristete seine tristen, kahlen Kinderjahre vernachlässigt auf der Fensterbank meines Arbeitszimmers (meine Hommage an Goethe), bis ich Erbarmen mit ihm hatte und ihn vor einer Dekade in meinen Garten pflanzte. Nun strebt er himmelhoch empor und nur ein mitleidloser Winterschnitt hält ihn einigermaßen im Zaum. Buttergelb glänzen nun seine eben noch tiefgrünen Blätter in den den letzten Sommerstrahlen.

ginko

An der Kirsche hingegen hing jedoch heute morgen nur noch ein einziges Blatt, das dem Sturmwind der vergangenen Nacht getrotzt hat.

Kirsche

Und schließlich ist da noch meine Hausspinne. Sie ist vor dem etwas undichten Fenster, das ihr Wärme schenkt, fett gefressen an ungeschickt taumelnden Novemberfliegen. Bald wird sie sich ein Plätzchen suchen, wo sie überwintern kann. Ich gebe es zu: Ich beneide sie ein wenig.

Spinne

 

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