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Nur ein Satz – eine Kurzgeschichte von Hans-Dieter Heun

Nur ein Satz

Gestern habe ich einen merkenswert guten Satz aufgeschnappt. Leider vermag ich mich nicht mehr an die Worte zu erinnern oder worum es in diesem Satz ging. Nur, dass er merkenswert gut gewesen. Das nachlassende Gedächtnis, dem Alter geschuldet, oder beginnender Alzheimer, ebenfalls dem Alter verbunden? Was weiß ich denn … noch? Ebenso nicht mehr, von wem ich diesen merkenswerten guten Satz aufgeschnappt habe. Ich lebe als Eremit in meiner Eremitage mitten im Wald, und die Bäume … neigen sich tief und schweigen, nur atmend lauscht die Nachtigall.

Warum fällt mir jetzt ausgerechnet die Ballade vom Nöck ein, aber nicht jener merkenswerte gute Satz? Wurscht und richtig gestellt: Die Bäume reden nicht mit mir, niemals … Außer meine dichten Fichten, die erzählen Geschichten … Und was für welche. Zum Beispiel jüngst von Schwammerlsuchern, einem Paar, das jedoch nicht unbedingt auf Schwammerl aus war, sondern sich am wilden Wasserfall traf, um … Da rauscht und braust der Wasserfall, hoch fliegt hinweg die Nachtigall … doch keineswegs die Lerche … wenigstens in dem Poem über den Nöck.

Es ärgert mich maßlos, dass mir zwar ein Nöck im Gedächtnis verblieben ist, jedoch nicht dieser Satz. Allerdings wäre es mir ein Leichtes, nun einen anderen guten Satz hinzuschreiben und so zu tun, als ob es der von gestern wäre. Etwa: Würde ein einfacher Mensch – eine Frau – dessen Gedanken kaum über den kleinen Kreis seiner gewohnten Täglichkeit hinausgehen, gezwungen, ausschließlich mit Gelehrten und Philosophen zu verkehren, ohne einen anderen Menschen seines Schlages zu sehen, er würde – also sie, die Frau – mit der Zeit melancholisch werden, sich bedrückt fühlen und an der Gesundheit Schaden nehmen … Ein guter Satz. Ein zweiter: Da tönt des Nöcken Harfenschall und wieder steht der Wasserfall umschwebt mit Schaum und Wogen. Wahrhaft schön, und selbst das Schwammerlpaar macht von diesen wohlklingenden Worten angetan erneut Liebe, wohingegen die Nachtigall, zurück vom Hochfliegen und nun beim Spannen, verlegen atmend weiter schweigt.

Liebe? Ja genau, Liebe, das war´s. Zumindest Teil dieses merkenswerten schönen Satzes … Nein, auch sonst. Liebe ist das wundersame Elixier für das Werden und den Erhalt des Lebens schlechthin. Weil aber die Sprache unmittelbar zu einem Leben dazugehört, schriftlich niedergelegt selbst dem Stummen als Ausdrucksmittel für seine zwischenmenschliche Kommunikation dient, ist Liebe ebenfalls Teil der Sprache und des geschriebenen Wortes. Dem Dichter gar stellt sich die Liebe als unverzichtbare Mitte seines literarischen Schaffens dar. – Beeindruckend poetisch gesprochen, nicht wahr? Oder noch besser: als Satz für diese Geschichte beeindruckend geschrieben. Allerdings, Schönschreibung hilft mir nun nicht weiter, wenn der Rest jenes merkenswerten Satzes weiterhin im Nebel meiner Vergesslichkeit verborgen liegt.

Boing, Nebel, doing – Hammerschläge auf den Hinterkopf, der merkenswert schöne Satz steht wieder klar vor meinen inneren Augen … Oder, um es dem Nöck nachempfunden zu sagen: Es spielt der Satz und spricht mit Macht von Liebe, Lust und Sonnenpracht, vom Sprechen kann er leben … Der Satz, und diesmal nicht der Nöck. Die Nachtigall hat ohnehin nichts gesagt oder tiriliert, nur weiterhin atmend geschwiegen. Obwohl im wahren Waldrandsein – da lebt die Luscinia megarhynchos nämlich mit Vorliebe, doch ebenso manchmal, wenn für sie gerade kein Waldesrand zur Verfügung steht, im dichten Gebüsch … Wo war ich, wo will ich hin? Ach ja: Obgleich ihr Gesang reich, wohltönend, weiterhin überaus komplex erklingt und aus mehreren Strophen dicht gereihter Einzel- und Doppeltöne besteht. Jawohl, das ist so. – Leser, die mir bis hierher noch gefolgt sind und solches nun nicht glauben, mögen sich auf YouTube von ihrem Gesang als Beweis meiner Behauptung überzeugen.

Ich, dessen Wortkargheit sprichwörtlich ist, verzettele mich wohl momentan. Das heißt: Wenn ich meine kargen Gedanken zu diesem merkenswert schönen Satz auf Zettel geschrieben hätte, lägen jetzt bereits schon einige dieser kleinen, meist rechteckigen Papiere, sprich Zettel, vollgeschrieben vor mir.

DER SATZ! – Wer schreit? Gewissen, bist Du das? Ich sollte mich wohl bequemen und … Nun dann: „Liebe ist wie Nebel, im hellen Sonnenschein des alltäglichen Miteinanders löst sie sich auf:“

Gut, wahrhaft merkenswert schön aufgeschnappt. Ich muss mich loben. Allerdings trifft dieser Satz für mich keineswegs zu: Alle Tage, die ich lebe und weiter leben darf, möchte ich auch lieben. Selbst wenn die Nachtigall, Vogel der Liebe, noch so lange atmend lauscht und keinen einzigen Piep von sich gibt.

vogel

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