So traf ich zum ersten Mal deinen und meinen Freund. Er nannte sich hier Tierope, aber sein wirklicher Name war Linus Binderseil. Er nahm die Räder seines Rollstuhls in die Hände und rollte an die Seite meines Lagers. Dann beugte er sich vor und betrachtete mich genau, als wolle er einschätzen, was er von mir zu erwarten hatte. Er schien zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen, denn er nickte lächelnd. Ich befeuchtete meine Lippen.
„Günec“, krächzte ich. „Mein Freund Günec ist noch im Berg.“ Tierope – ich werde bei dem Namen bleiben, unter dem ich ihn damals kennenlernte – runzelte die Stirn. Edaine kam ihm zur Hilfe. „Er kam nicht allein. Ich habe Sir Ludger ausgeschickt, nach ihm zu suchen. Aber jetzt in der Nacht, in diesen Höhlenlabyrinthen… Ich habe nicht viel Hoffnung.“ Der Gelähmte wand sich wieder zu mir.
„Wir kümmern uns um deinen Gefährten”, beruhigte er mich. “Du bist genau richtig gekommen. Während unsere Reiter Frêneblancs Verteidiger in ein Scharmützel am Torturm der Vorburg verwickelten, ist es uns gelungen, den Schacht an der Ostseite so weit voranzutreiben, dass wir mit ihm die Grundmauern erreichten. Im Moment meißeln wir uns einen Eingang in die hinter ihnen liegenden Kellergewölbe der Feste, das ist ein langwierige Arbeit, denn die Steine sind dort sechs Ellen dick. Mit einer ähnlichen Anstrengung sollte es uns aber bereits übermorgen Abend gelingen, mit einem Trupp heimlich in die Burg einzudringen, der unserer Hauptarmee dann die Tore öffnen kann. Montedolor wird endlich fallen und wir können Lina und ihr Kind befreien. Anschließend kommst du ins Spiel“, erklärte Tierope begeistert.
„Nicht, dass ich irgendetwas von dem verstehe, was du mir da erzählst. Wo bin ich hier? Ist das eine Art von Vergnügungspark? Das ist doch nicht real, oder?“ Ich versuchte, mich ein wenig aufzurichten. Sofort war Edaine bei der Stelle, stützte mich und schob mir ein paar Kissenrollen unter. Tierope griff beruhigend nach meiner Hand. Er lachte auf.
„Vergnügungspark… So kann man das auch nennen. Du hast keine Ahnung, das ist schon klar. Ich werde dir die ganze Geschichte erzählen.“
„Aber erst morgen“, mischte sich Edaine eilig ein, „da haben wir noch genügend Zeit. Jetzt braucht unser Freund erst einmal seine Suppe und dann muss er schlafen.“ Es war Tierope anzumerken, dass ihm diese Entscheidung nicht gefiel, aber er beugte sich seiner resoluten Frau.
„Ja, du solltest dich ausruhen“, sagte er und machte Sir Henry, der zwischen den Vorhangspalten gewartet hatte, ein Zeichen. Der Ritter trat beflissen vor und griff sich den Rollstuhl des Gelähmten, machte Anstalten, ihn aus dem provisorischen Krankenlager zu rollen.
„Eines noch…“ Tierope wand sich noch einmal neugierig zu mir. „Wie ist eigentlich dein Name?“ Ich nannte ihn und sah fassungsloses Erstaunen auf seinem Gesicht.
„Du bist Georg Habakuk? Der Archäologe! Ist das zu glauben? Ich kenne deinen Sohn.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. Bevor ich noch fragen konnte, welchen ‘Sohn’ er zum Kuckuck meinte, wünschte er mir eine gute Nacht und ließ sich von seinem ritterlichen Pfleger hinausschieben. Edaine schob mir einen Holzlöffel mit einer versalzenen Hühnerbrühe vor den Mund, die jeden weiteren Diskussionswunsch von meiner Seite beendete.“
‘Was für eine unbequeme Saunaliege’, dachte Jonas und schob sich etwas nach oben, drückte sein Kreuz durch. ‘Man sollte doch glauben, dass sie einem mehr Komfort bieten für das Geld, das man ihnen bezahlt.’
Er hoffte, durch seine Bewegung den angespannten Rücken ein wenig zu entlasten, aber das Gegenteil geschah. Der Schmerz in seinen Lenden wurde so stark, dass er nach Luft schnappte und die Augen öffnete. Sofort richtete er sich ganz auf und sah sich staunend um. Wahrscheinlich war er nur kurz eingenickt und hatte geträumt, er würde seinen üblichen Dienstagssaunagang mit seinem Vater unternehmen und neben ihm auf einer der beigen Plastikliegen einschlafen. Stattdessen war er quer auf den mit einer abblätternden, taubengrauen Farbe gestrichenen Balken einer Parkbank gelegen und dabei hatte wahrscheinlich sein Kopf auf dem Oberschenkel von Alban Waldescher geruht. Dieser lächelte Jonas aufmunternd und auch ein wenig belustigt zu.
Es war noch immer Sonntag Nachmittag und noch immer war Jonas mit dem seltsamen Mann unterwegs, der ihm eine so fantastische Geschichte erzählt hatte. Er hatte es noch nicht geschafft, Waldescher loszuwerden. Nur saßen die beiden jetzt nicht mehr beim Sportplatz im Dorf, sondern sie waren bei den mittelalterlichen Wehranlagen spazieren gegangen, die gut erhalten die Altstadt des zehn Kilometer von Jonas Zuhause entfernten Orts umschlossen. Auch wenn sich Jonas im Moment nicht erklären konnte, wie er mit Waldescher ausgerechnet hierher gelangt war. Hatte er den Mann mit dem Auto in die Stadt gefahren oder waren sie die Strecke etwa gelaufen? Das konnte sich Jonas nicht vorstellen. Er wusste noch, wie ihn Alban aufgefordert hatte, ihn bis vor zu dem kleinen, jetzt im Sommer geschlossenen Glühweinstand im Bürgerpark zu begleiten. Dort waren sie durch eine kleine Seitentüre des aus rohen Brettern gezimmerten Kiosks getreten und gleichzeitig aus einer Nische im Mauerwerk des einzigen erhalten gebliebenen Wehrturms herausgekommen. So war es zumindest in der Erinnerung von Jonas hängengeblieben. Das Ganze mutete ihn ein weiteres Mal wie ein merkwürdiger Traum an.
Er sah sich genauer um. Wie der Wechsel auch vonstatten gegangen sein mochte; jetzt zumindest saß er neben Alban auf einer alten Parkbank in den erst kürzlich renovierten, an einen englischen Garten erinnernden Anlagen unterhalb der Schwedenmauer, die ihren Namen einer Belagerung im Dreißigjährigen Krieg durch die Armee von Gustav II. Adolf verdankte. Jonas sah sie förmlich vor sich: Scharen von Landsknechten und Musketieren, die vergebliche Attacken gegen die eingekesselte Stadt unternahmen, die kurze Zeit später durch protestantischen Verrat von Innen in die Hände der marodierenden Schweden fiel. Kanonenfeuer, Schanzen, Verwundete und Sterbende vor einer eilig gezimmerten Brücke über den damals noch tiefen Wassergraben, der heute nur noch ein dünnes Rinnsal war, auf dem Enten schwammen. Dann verblasste dieser Eindruck und Jonas musste lächeln. Er kannte die Bank, auf der er saß, von früher. Her hatte er mit zwölf oder dreizehn hustend seine ersten Zigaretten gepafft. Dort hinten, in dem damals noch ungepflegten und verwilderten Buschwerk, wo jetzt ein Rosenbeet war, hatte er mit einem Mädchen aus der Roten Siedlung erste körperliche Erfahrungen gesammelt. Wie hieß sie noch?
Erstaunlich, dass die Bank nicht der Ordnungswut des städtischen Gartenamts zum Opfer gefallen war, man sie nicht einmal abgeschliffen und neu gestrichen hatte. Wenn er jetzt unter die Holzbalken der Sitzfläche fassen würde, dann würde er bestimmt auch noch die versteinerten Überreste der Kaugummis ertasten können, mit deren Hilfe er versucht hatte, den verräterischen Atem zu übertünchen. Nicht, dass das nötig gewesen wäre. Sein zerstreuter Vater, obwohl überzeugter Nichtraucher, hatte nie auf solche Dinge geachtet. Seltsam, dass Jonas nun mit Alban Waldescher genau auf dieser Bank saß, die von der sich langsam dem Abend zuneigenden Sonne warm beschienen wurde. Er fühlte sich trotz der Rückenschmerzen heimisch und wohl, lehnte sich mit einem kleinen Seufzer zurück gegen die harte Lehne. Hier war er schon ewig nicht mehr gewesen.
Es erwachte ein Teil von ihm, ein Ich, dass er lange vergessen hatte, das unter vielen Schichten seiner selbst wie eine kleine russische Matrjoschka-Puppe in ihm gesteckt hatte und nun wieder zum Vorschein kam. Er sah sein früheres Ich deutlich vor sich, wie es an einem Herbsttag durch das feuchte Laub dieses totgesagten Parks schlenderte und eine Kippe zwischen Ring- und Mittelfinger hielt, dabei schon den Ruhm schmecken konnte, den es einmal als Schriftsteller haben würde, wenn nur sein Roman fertig und veröffentlicht war. Damals hatte er seinen Weg deutlich vor sich im schlammigen Matsch gesehen, durch den er spazierte. Wann hatte er ihn verloren?
Alban Waldescher unterbrach seine larmoyanten Gedanken. Er klatschte sich munter auf die Oberschenkel.
„Ich habe dich nicht gern gestört“, sagte er, „du hast so ruhig und friedlich geschlafen. Aber wir wollen doch später auf das Fest und ich wollte dir noch berichten, wie es weiterging mit mir und meinem Bruder. Wenn wir uns am Donnerstag in dem Café vor dem Renaissancegebäude wiedertreffen werde, solltest du die ganze Geschichte kennen.“