Kapitel 4 – Teil 7

Obwohl er auf eine Fortsetzung der Geschichte seines Vaters brannte, machte dieser keine Anstalten mehr, weiterzuerzählen. Es war für seinen Sohn nicht einmal mehr erkennbar, ob er sich überhaupt noch daran erinnerte, sie vorhin begonnen zu haben. Auf der Fahrt in die Therme wirkte er so geistesabwesend und in dem Irrgarten seines zerrütteten Verstands gefangen, dass Jonas bereits fürchtete, die Krankheit habe eine neue Stufe erreicht, die sich bereits in der Angstattacke der vergangenen Nacht manifestiert hatte. Die meiste Zeit brabbelte Habakuk in sich zusammengesunken ein paar unverständliche, vokalreiche Silben, auf denen er immer wieder wie auf einem zähen Kaugummi herumbiss. Vielleicht war er wieder ins Aramäische oder in sonst eine seiner vergessenen Sprachen verfallen, die er einmal so gut beherrscht hatte. Sonst war er vollkommen lethargisch und Jonas musste, im Bad angekommen, den alten Mann bei der Hand führen; vom Parkplatz zu den Kassen, dann zu den Umkleiden, ihn ausziehen, zur Toilette und dann in den Saunabereich führen. Die Reaktionen der Badegäste, missbilligende, mitleidende und abgestoßene Seitenblicke, die heimlich auf ihn und seinen Vater fielen, waren ihm längst nicht mehr peinlich, schließlich unternahm er diesen Badeausflug seit Jahren an fast jedem Dienstag.

Erst beim ersten Saunagang, als die beiden bereits einige Zeit in der trockenen Hitze sotten, wurde Habakuk senior wieder munter. Er sah sich auf einmal neugierig und lächelnd in der überfüllten Kammer um und verrieb gutgelaunt den Schweiß auf seiner eingefallenen Brust. Er gluckste dabei wie ein fröhliches Kind. Schließlich fiel sein nun wieder wacher und aufmerksamer Blick auf den Sohn, der ihm schräg gegenüber auf einem Badetuch saß und den hageren, aber noch straffen Körper nachdenklich musterte. Jonas suchte die Narbe, von der er ihm erzählt hatte, fand sie aber nicht. Ob es nun an der Temperatur in der finnischen Sauna lag, die seine Lebensgeister und seine Erinnerung in Gang brachten oder daran, dass er plötzlich wieder seinen Sohn erkannte, er setzte seine Erzählung genau an dem Punkt fort, an dem er sie im Auto unterbrochen hatte:

Das war in meinem geschwächten Zustand nicht einfach, Ludgers Maulesel zu besteigen. Aber mit der Hilfe des Kreuzritters gelang es mir. Er erklärte mir, dass er auf einem Erkundungsritt und wir nur wenige Meilen von seinem Lager entfernt waren, das seine Kreuzfahrerarmee bei der El-Aqsir-Oase aufgeschlagen hatte, von der ich übrigens noch nie etwas gehört hatte. Er schätzte, wir könnten lange vor Sonnenaufgang dort sein und bis dahin würde ich es schon noch schaffen“, erzählte Habakuk und erntete die erstaunten Blicke aller in der Sauna Schwitzenden. Soweit es möglich war, rückte man pikiert links und rechts ein wenig von ihm ab. Jonas sprang sofort auf, nahm seinen Vater wieder an die Hand und führte den unverdrossen Erzählenden aus der Sauna. Habakuk ließ sich alles widerstandslos gefallen und nicht weiter in seinem Bericht stören. Auch während Jonas ihn kalt abduschte, ihn in seinen Bademantel steckte und anschließend trockenrieb, ihn anschließend auf die Empore über dem Schwimmbecken zu den Liegen führte, erzählte der Alte weiter.

Er berichtete von dem langsamen Ritt über den in der prallen Sonne kochenden Tafelberg, der Ritter auf seinem gerüsteten Falben voraus; er selbst halb dahinter auf dem ihn nur widerstrebend tragenden Maultier, das sich nur vorwärts bewegte, weil sein Zaumzeug über einen Lederriemen am Sattelknopf des Pferdes befestigt war. Mehrmals war er am Rand einer Ohnmacht und wäre einmal fast von seinem Reittier gestürzt. Ludger bemerkte das Schwanken seines Begleiters, hielt an, holte ein festes Seil aus der Satteltasche und band Habakuk kurzerhand auf seinem Grautier fest. So setzten sie ihre Reise fort.

Jonas konnte der ausführlichen Erzählung von dem Ritt zur Oase erst wieder aufmerksamer folgen, nachdem er seinen Vater glücklich auf die Saunaliege transportiert, diese nach hinten gekippt und sich neben ihn gesetzt hatte. Dabei fühlte er sich ein wenig wie ein Therapeut bei einer tiefenpsychologischen Sitzung, während der sein Patient unter Hypnose mit weit aufgerissenen Augen in die hohe gläserne Deckenkuppel starrte und dort nicht den blauen bayerischen, sondern den staubgelben Himmel der lebensfeindlichen Arava-Wüste erblickte, wie er ihn vor über vierzig Jahren erlebt hatte.

Trotz meiner unbequemen Lage und dem groben, schmerzhaft in die Oberschenkel einschneidenden Strick, mit dem mich Ludger auf mein unwilliges Reittier gefesselt hatte, muss ich doch eingeschlafen sein. Ich erinnere mich an wirre Träume von Gänge-Labyrinthen und Höhlensystemen, die sich vor mir verbogen und verengten. Mir war, als würde ich noch immer mit Günec verzweifelt durch den Berg unter mir kriechen. Wie bei Fieberträumen üblich, erlebte ich immer und immer wieder den gleichen Augenblick: Plötzlich gab der Fels unter meinen Füßen nach, ich stürzte durch den Boden und fiel in ein endloses Nichts.

Ich erwachte wieder, als Ludger die Tiere zügelte und wusste lange nicht, wo ich war. Auch nachdem die Erinnerung zurückgekehrt war, fühlte ich mich noch in einem Traum gefangen. Denn der Ausblick war zu fantastisch, um wahr zu sein. Der Tempelritter hatte sein Pferd vor einer Klippe angehalten. Wir waren im Lauf des Nachmittags über die Hochebene geritten und nun am Abbruch auf der anderen Seite angelangt. Dort lief der Berg etwas flacher als gegenüber in ein weites Tal aus. Es war sogar so etwas wie ein provisorischer Weg zu erkennen, eine von Hufen und Stiefeln festgestampfte und mit großen Steinen markierte Sandpiste, die in einem langgestreckten Bogen hinabführte. Unten floss von einem kargen Grünstreifen und hohem trockenen Schilf umgeben tatsächlich ein kleiner Rinnsal, der von dem Quellwasser einer Oase weiter hinten gespeist wurde. Dort konnte ich ein recht großes mittelalterliches Heerlager erkennen, Zelte füllten die Ebene, insgesamt waren es sicherlich einige hundert. Man hatte Gatter für die Pferde errichtet, Katapulte und Rammböcke auf Rädern waren zu sehen. Außen herum lief ein niedriger Befestigungswall aus zugespitzten Palmenstämmen, die man offenbar direkt dem kargen Baumbestand der Oase entnommen hatte. Erstaunlich viele Menschen, wohl Ritter wie mein Retter neben mir, saßen neben den Zelten vor offenen Feuern und Kochstellen oder waren geschäftig in den Gassen unterwegs. Es wimmelte zwar auf der Ebene wie auf einem Ameisenbau, aber alles schien mir gut organisiert und durchdacht zu sein.

Der erstaunlichste Anblick allerdings erhob sich hinter der Ebene auf dem nächsten Hügel, der den vom Staub diesigen Horizont begrenzte, über dem eine bereits tiefstehende Sonne glühte. Dort stand eine trotzige, große Burganlage und offensichtlich wurde sie von den Rittern von der Oase belagert. Einige der Mauern der Burg waren eingestürzt, Belagerungstürme waren nahe an sie herangeschoben, überall auf dem Hügel standen Schanzanlagen und waren Gänge gegraben, die den Angreifern Schutz vor den Bogenschützen bieten konnten, deren Silhouetten oben auf den Zinnen und in den gekreuzten Fenstern zu erkennen waren. An zwei Stellen qualmten dicke Rauchwolken, hier mussten strohgedeckte Dächer oder Ställe in Brand geraten sein. Im Moment waren keine Kampfhandlungen zu sehen. Das war bei der jede Kraft aus den Körpern ziehenden Hitze auch nicht zu erwarten. Angegriffen wurde in der Morgenfrische oder in der Nacht. Vielleicht wollte man die Festung auch aushungern.

Ludger deutete mit Ingrimm auf die Burg: „Das ist Montedolor, die Burg des Teufels. In ihr hat sich Ruben Frêneblanc, der Abtünnige, mit seinen Mordgesellen verschanzt. So Gott will, wird die Feste der Ketzer mit dem Beistand der heiligen Jungfrau morgen endlich fallen. Dann ist der Weg frei nach St. Abraham, das wir mit dem Kreuz und dem Schwert in der Hand wieder der Herrschaft des edlen Sultan Saladin entreißen werden.“

Wenn mich meine Geschichtskenntnisse nicht täuschten, sprach er über die Ortschaft Hebron, die fünfunddreißig oder vierzig Kilometer entfernt irgendwo im Südwesten lag und wie viele Städte des Gelobten Landes auf eine über dreitausendjährige wechselvolle und blutige Geschichte zurückblicken konnte, in der sich Muslime, Juden und Christen gegenseitig massakriert hatten. Gab es hier überhaupt noch einen Flecken staubiger Erde, über dem nicht das Blut ein Mensches vergossen worden war?

4 thoughts on “Kapitel 4 – Teil 7”

  1. Gefällt mir insgesamt gut, würde aber nach wie vor etwas ausdünnen. Es ist etwas anstrengend zu lesen, obwohl es sprachlich gut ist. L.G. Theresa.

  2. Liebe Theresa, schön, dass es dir noch gefällt!

    Die von dir angemerkten Tippfehler habe ich verbessert – Danke für’s aufmerksame Lesen.

    Ist der Text deshalb etwas anstrengend zu lesen, weil er nur häppchenweise erscheint oder weil du die vorangegangenen vier Kapitel (O – 3) nicht kennst?
    Oder ist es meine für den Roman gewählte Sprache, die ihn anstrengend macht? Das „Ausdünnen“ ist eine Arbeit, die ich erst unternehmen will, wenn ich das Buch fertig habe. Was dabei passiert, kann man an meiner Montagserzählung „Stromausfall“ sehen; sie hatte ursprünglich Romanlänge und wurde gut um die Hälfte eingedampft, indem ich jedes meiner Meinung nach überflüssige Wort und jede für die Handlung nicht wichtige Beschreibung rigoros gestrichen habe. Es blieb ein expressionistischer, holzschnittartiger Korpus wie eine mathematische Beweisführung übrig, die zum einen die Struktur des Bild nachahmt, zu der „Stromausfall“ entstand, den Text aber extrem schwer lesbar macht.

    Grüße, Klammer

  3. Das Beschreiben ist nur ein Aspekt des Erzählens. Wenn es den ganzen Text durchzieht und so komplex ist, wie hier, ist das für den Leser sehr anstrengend. Auch in den Dialogen bleibst du bei dieser Form. Hier wäre eine direkte und individuelle Ausdrucksform m. E. lebendiger. Die Handlung selber bleibt am Ende auf der Strecke. Immer wieder vertröstest du den Leser mit ausufernden Beschreibungen, anstatt die Figuren handeln zu lassen. Du weißt schon: „Show, don’t tell.“ Nicht umsonst immer wieder gern zitiert. Ein Wechsel zwischen den einzelnen Ausdrucksmitteln würde der Sache mehr Schwung geben.
    Gruß, Theresa.

  4. Hmm…
    „Aber ein Traum“ verwendet zwar Versatzstücke aus der Genreliteratur, aber mir geht es hier genau um das Ausufernde, Retardierende. Es ist Teil des Konzepts. Das ist mein „Mann ohne Eigenschaften“. Ich will keine „action“, ich errichte Räume. Und ja: Ich will sie so exakt beschreiben, wie ich kann. Wer von mir Handlung und Spannung möchte, findet sie bei „Brautschau“. Du hast jedoch Recht.

    Leser werde ich wohl nur wenige finden, die mir dabei folgen wollen.

    Liebe Grüße, Klammer

Kommentar verfassen

Related Post

NeujahrsgrüßeNeujahrsgrüße

Ein paar Gedanken zum neuen Jahr Mein Abreißkalender leidet an der Magersucht. Besorgt beobachte ich seit geraumer Zeit, wie er täglich Blatt um Blatt verliert und dabei immer dünner und

Entdecke mehr von Nikolaus Klammer

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen