Wochenlese 23. Juni – 29. Juni 2014

Ich habe mich in diesem Blog bereits mehrmals zu Honoré de Balzac bekannt, den bedeutendsten Prosa-Autor, den ich kenne. Wenn Kritiker über Bücher schwärmen und sich zu Superlativen versteigen, fügen sie gerne von ihrer eigenen Chuzpe verschreckt ein paar Dimunitive und relativierende Wörtchen wie „vielleicht“ oder „wahrscheinlich“ ein, die ihre Lobeshymnen gleich wieder einschränken. Bei Balzac gibt es kein „vielleicht“ oder „wahrscheinlich“: Er ist der einfach der Beste. Sogar in seinen Schludrigkeiten und Fehlern ist er groß. Wer einmal wie ein hilfloses Insekt am Fliegenleim der 91 (!) Erzählungen und Romane seines unvollendeten Hauptwerkes – der „Comédie humaine“ – klebt, kommt sein Leben lang nicht mehr von dem Romancier los.(1)

Was aber tun, wenn der gesamte Balzac nicht nur einmal, sondern mehrmals gelesen ist; alle Studien der „Menschlichen Komödie„, die „Tolldrastischen Geschichten„, das essayistische Zeitungswerk, die frühen Romane und die „Briefe an die Fremde„; manches nur durch beharrliches jahrelanges Wühlen im Staub von Antiquariaten entdeckt? Wenn man angefixt ist und die Drogenquelle sich erschöpft, auch wenn es eine gewaltige ist, die sich in meinem Bücherregal auf über eineinhalb Metern breitmacht? Man begibt sich auf die Suche nach einem schmerzstillenden Methadon, das die schlimmsten Suchtbeschwerden lindern kann. In fast jedem europäischen Land findet man im 19. Jahrhundert einen oder zwei realistische Autoren, die zwar nicht diese rauschhafte Wirkung wie Balzac verbreiten, aber ganz gut als Ersatzdroge funktionieren. In Deutschland ist das z. B. Karl Gutzkow mit den „Rittern vom Geiste“ oder dem „Zauberer von Rom„, im englischen Sprachraum William Makepeace Thackeray („Jahrmarkt der Eitelkeiten“ oder der wunderbare „Henry Esmond“), der immer ein wenig nach herbstlichem Kartoffelfeuer duftende Thomas Hardy oder als leicht versnobter und verspäteter Nachkömmling John Galsworthy („Forsyte-Saga“), in Italien ist das der viel zu früh verstorbene Ippolito Nievo mit„Pisana“.(2).

PerezGaldos

Benito Pérez Galdós – Portraitskizze von Ramon Casas

Der große Realist und Chronist der Spanier ist Benito Pérez Galdós (1843 – 1920).(3) Kein Autor kommt Balzac näher – auch wenn der Vergleich selbstverständlich hinkt und man Pérez Galdós höchstens mit einem Streifschuss verletzt, wenn man auf Balzac zielt.

Neben seinen vielen Theaterstücken hat Pérez über 70 teils äußerst umfangreiche Romane geschrieben, 46 von ihnen bilden den unvollendeten Zyklus der „Episodios Nacionales„, in dem er einen Abriss über die spanische Geschichte des 19. Jahrhunderts zu geben versucht und in dem viele Figuren immer wieder auftauchen. Wen das alles an Balzac erinnert, liegt freilich nicht falsch. Aber Galdós ist auch von so weit von einander entfernten Autoren beeinflusst wie einerseits von Walter Scott (dem auch Balzac sehr viel verdankt) und Dumas père, andererseits von Dostojewskijs frühen Romanen „Arme Leute“ oder „Erniedrigte und Beleidigte“, deren Spiritualismus der Spanier, der sonst eher zum Antiklerikalismus neigt, übrigens teilt. Kurz gesagt: Pérez Galdós Schaffen ist ein verborgener Schatz, den es zu entdecken gilt; seine Figuren sind grandios gestaltet.

Leider sind im deutschen Buchhandel augenblicklich nur wenige seiner Werke lieferbar, obwohl es in der Vergangenheit etliche Ausgaben seiner Romane bei Suhrkamp, Fischer, Manesse und dtv gab. Ein recht repräsentativer Überblick über Pérez Galdós‘ Schaffen ist also mal wieder nur antiquarisch oder in Stadtbüchereien erhältlich. Auch auf dem E-Book-Sektor ist es schlecht um den großen Spanier bestellt. Die großen Romane wie „Misericordia„, „Miau„, „Doña Perfecta„, „Amigo Manso“ oder das geradezu endlos lange Sittengemälde „Fortunata und Jacinta“ (1300 Seiten in der Manesseausgabe) gibt es nur im Original.

Einzig der kleine Roman einer Nonne, dessen deutscher Titel falsche Erwartungen weckt (im Original „La campaña del Ma­es­traz­go“, also der „Feldzug von Maestrazgo“), ist bei den üblichen Verdächtigen in einer leicht gekürzten, reichlich angestaubten und alterthümlichen anonymen Übersetzung von 1902 erhältlich. Dieses Werk gehört zu den „Episodios Nacionales“ und erzählt eine Begebenheit aus dem ersten Thronfolgekrieg von 1833, dem Beginn einer Reihe von blutigen Bürgerkriegen, die Spanien in schöner Regelmäßigkeit über 100 Jahre lang erschütterten. Die in der deutschen Übersetzung titelgebende, äußerst androgyn beschriebene – um nicht gleich das Modewort „nichtbinär“ zu benutzen -, wandernde Nonne Marcela Luco(4) hat in dem Roman eine eher untergeordnete Rolle. Sie ist mit zwei Totengräbern auf den Schlachtfeldern unterwegs, um Gefallene zu beerdigen. Im Mittelpunkt stehen der aus seiner galanten Zeit der Aufklärung gefallene verarmte Adlige Don Beltran und der (historische) Karlistengeneral Ramón Cabrera y Griño.

Über den entsetzlichen Kriegen des 20. Jahrhunderts vergisst man gerne, dass die Auseinandersetzungen des 19. nicht weniger brutal und blutig geführt wurden. Man verklärt gerne diese „gute, alte Zeit“, aber grausame Menschenschlächter wie z. B. Napoleon hinterließen überall Leichenberge, verwüstete Landstriche und Elend. Man liest gerade viel über die Gräuel des Ukrainekrieges, die Bürgerkriege in Spanien oder z. B. in Amerika waren ebenso blutige Massaker.

Der „Roman einer Nonne“ ist einer der ersten Anti-Kriegsromane und zeigt, wie der Krieg eine ganze Gesellschaft zerreißt und bestialisiert. Niemand entkommt dem Grauen; jeder macht sich schuldig, ist Opfer und Täter zugleich. Und das macht das Buch trotz seines etwas zähen und umständlichen Einstiegs und der holrigen Übersetzung auch heute noch (auch für den Nicht-Balzac-Fan) lesbar und interessant.

In diesem Sommer werde ich mir endlich Benitos Hauptwerk „Fortunata und Jacinta“ zur Brust nehmen. Diesen gewaltigen Roman habe ich endlich in einem Antiquariat in Ludwigsburg zu einem annehmbaren Preis erwerben können. Er wird mir hoffentlich die ebenso langen, heißen Abende dieses Sommers versüßen.

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(1) Balzacs Einfluss auf mein eigenes Werk ist vielfältig. Er gipfelt in meiner Erzählung „Familienbande“, die ich in Balzac’scher Manier schrieb. Auch für meinen eigenen Zyklus „Jahrmarkt in der Stadt“ dient die Struktur der „Menschlichen Komödie“ als Blaupause.

(2) Die wichtigsten Werke dieser Autoren sind beim Buchhändler des Vertrauens erhältlich. Da sie zudem längst aus dem Urheberrecht gefallen sind, gibt es auch einen ordentlichen Überblick bei Mobileread oder Gutenberg als kostenfreies E-Book. Trotz der wunderschönen Ausgabe des Zweitausendeins-Verlags in der „Haidnische Alterthümer“-Reihe sind die 3000 Seiten der „Ritter vom Geiste“ als E-Book im Wortsinn leichter lesbar.

(3) Die spanischen, portugiesischen und lateinamerikanischen Autoren machen es mir nicht leicht, wenn ich sie in den Alphabet-Zwang meines Bücherregals zwängen will: Soll ich z. B. Pérez Galdós bei „P“ (Nachname des Vaters) oder bei „G“ (Nachname der Mutter) einordnen? Kennt sich da jemand aus? Noch schlimmer sind die Chinesen, bei denen ich immer nachschlagen muss, was nun Vor- und was Nachname ist …

(4) „…als Knabe wäre sie nur von ge­wöhn­li­cher Höhe ge­we­sen, aber als Frau war sie von einer hohen Sta­tur, von schö­nen und ele­gan­ten Pro­por­tio­nen. Das brau­ne, von der Sonne ver­brann­te Ant­litz glich einem alten Por­trät, des­sen Far­ben die Zeit ver­dun­kelt hatte, indem sie ihnen gleich­zei­tig ein sanf­tes Pa­ti­na und ge­dämpf­te Schat­ten ver­lieh. Die gro­ßen, schwar­zen, wun­der­sam ge­schlitz­ten Augen mit dem tie­fen Blick gli­chen jenem eines Jüng­lings, aber die Nase, der Mund und der un­te­re Theil des Ge­sichts gaben den Ein­druck eines fei­nen, gra­ziö­sen Frau­en­bil­des mit einem Grüb­chen am Kinn und einem leich­ten Flaum über der Ober­lip­pe. Die Haare fie­len in dich­ten, ra­ben­schwar­zen Flech­ten herab; sie be­deck­ten einen Theil des Na­ckens, der braun war wie das Ge­sicht und theil­ten sich in der Mitte der Stirn in zwei dich­te Mas­sen, wel­che häu­fig die Augen be­deck­ten. Der Kör­per war von einer sel­te­nen Voll­endung und schien alle Ei­gen­schaf­ten zu ver­ei­ni­gen, wel­che die räth­sel­haf­te und ver­wir­ren­de Schön­heit des An­dro­gyns er­ge­ben.“

Damit hat man auch einen guten Eindruck von der Übersetzung.

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