Bekanntlich stammt vom schlauen Herrn Hegel der Satz: “Wahrheit ist das, was der Fall ist und zwar unabhängig von dem, was behauptet wird.” Und der nicht weniger schlauer Ludwig Wittgenstein ergänzte 150 Jahre später: “Die Welt ist alles, was der Fall ist.” Damit war die, sagen wir mal: schöngeistige Philosophie in ihre Sackgasse gerutscht, aus der sie nie mehr herausfand.
Warum erwähne ich das? Nun, ich halte es für Unfug. Ich bin zwar nicht mit Markus Gabriel einer Meinung, dass die Welt allein schon aus rein sophistischen Erwägungen heraus nicht existieren könne(1), aber habe die Erkenntnis gewonnen, dass in der Welt vieles wahr ist und existiert, das eben nicht der Fall, sondern nur ein Un-Fall der Gedanken ist. Die Menschen glauben plötzlich an Dinge und sie beginnen deshalb zu existieren (Die Dinge, nicht die Menschen).
Zu kompliziert? Der Beispiele gibt es viele. Nehmen wir mal die sogenannte Lactose-Intoleranz: Die gibt es nicht wirklich; die hat sich ein findiger Lebensmittelproduzent ausgedacht, um seinem Käse ein Etikett zu verpassen, mit dem er ihn teurer verkaufen kann. Als ich jünger war, hatte jemand vielleicht nach zuviel Essen Blähungen oder Durchfall; heute muss es immer eine Intoleranz oder eine Allergie sein. Oder denken wir an die “Blow ups” auf den Autobahnen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es sie vor dem heißen Sommer 2013 gab; heuer tauchten sie trotz des eher gemäßigten Wetters schon wieder auf und sind lebensbedrohlich. Und was soll eigentlich der Unfug mit dem “windchill”, der “gefühlten Temperatur”, die sich um ein, zwei Grad von der tatsächlichen unterscheiden soll? Das sind alles Dinge, die irgendwann mal jemand erfunden hat und die erst seit diesem Moment in unserer Welt existieren.
Im folgenden Freitagsaufreger vom 31. Mai 2013 habe ich mich näher mit diesem philosophischen Problem beschäftigt und eine genial einfache Lösung vorgeschlagen. Leider hat niemand auf mich gehört und in diesem Jahr gibt es so viele Zecken wie schon lange nicht mehr…
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Platon und das Ungeziefer
Das 21. Jahrhundert hat einige Dinge hervorgebracht, die es in meiner Jugend nicht gab. Niemand konnte sich damals vorstellen, ihm würde einmal eine durchgedrehte Konsumindustrie künstliche Sachen wie Smartphones, Fahrradhelme, „tunnels“ für die Ohren oder Daniela Katzenberger als überlebensnotwendig vorgaukeln.
Doch ich will nicht von aus Geldgier erzeugten Gelüsten nach unnötigen Objekten reden, denn das würde den Rahmen eines Freitagsaufregers sprengen, sondern von einem unscheinbaren Tierchen, das es früher offenbar ebenfalls nicht gab. Zumindest kann ich mich nicht erinnern:
Ich rede von der Zecke, einer – dies für den Biologen in der Familie – Parasitiforma der Acari mit dem Gattungsnamen Ixodida. Das klingt nicht nur nach billiger SF: Ich habe meine Kindheit durch Gebüsche und Sträucher kriechend, auf Bäume kletternd und durch Wiesen rollend verbracht, musste hinter meinem wanderbegeisterten Vater hertrottend Wälder und Moore durchqueren und Berge erklimmen und fand anschließend nie solch ein Insekt in meinen Hautfalten – man hatte vielleicht mal davon gehört, dass es so etwas gab, aber im Großen und Ganzen war die Zecke ein Fabelwesen wie das Einhorn.
Plötzlich, vor ungefähr zehn Jahren, änderte sich alles: Den Frühlingsbeginn markierte nicht mehr die Kirschblüte oder der Osterplärrer, sondern Warnartikel über nie gehörte Krankheiten wie Borreliose oder FSME in den Zeitungen, aufwändige Karten über sich immer weiter ausbreitende Risikogebiete und eine Vielzahl widersprüchlicher Anleitungen, wie man die Blutsauger entfernt, ohne sie zu köpfen. Dann ging es Schlag auf Schlag. Mit einem Mal kamen die Söhne mit Zecken vom Spielplatz und die Schwiegermutter aus ihrem Garten, Autan wurde noch giftiger und stinkender, die Apotheker verkauften Zeckenzangen und es wurde empfohlen, nicht mit kurzen Hosen zu wandern und keinen Urlaub mehr östlich von München zu machen.
Und jetzt bringt Amy (meine Katze, man erinnert sich) von ihren Ausflügen in die Natur in schöner Regelmäßigkeit dieses possierliche Ungeziefer mit ins Haus. Meist hängt die eklige Ixodida wie ein Vampir an ihrer Kehle, genau an der Stelle, wo sie am liebsten gekrault wird. Frau Klammerle bekommt in ebenso schöner Regelmäßigkeit hysterische Anfälle, bis ich Held die nur mäßig begeisterte Katze von ihrem Quälgeist mit Hilfe einer Zange befreit habe und das Insekt zerquetscht und als blutige Masse in der Toilette entsorgt wurde. Gegen Flöhe und Würmer kann ich Amy impfen, gegen Zecken hilft nichts…
Deshalb:
Können wir nicht wieder wie im letzten Jahrhundert die Zecken einfach Zecken sein und aus dem kollektiven Gedächnis verschwinden lassen? Wie die Katzenberger existieren Zecken laut Platon nur, solange die Idee der Zecke (oder die Idee der Katzenberger) existiert. Die Zecke ist die Manifestierung der Idee der Zecke. Vergessen wir diesen εἶδος, endet auch die Existenz dieses Ungeziefers und ich kann weiterhin ohne Fahrradhelm durch die Gegend radeln und ruhig und ausgeglichen durchs Fernsehprogramm zappen…

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[1] Markus Gabriel – Warum es die Welt nicht gibt. (ullstein 2013). Deutschlands jüngster Philosophieprofessor und Mitbegründer des “Neuen Realismus” führt in diesem Buch aus, dass die Welt nicht existieren kann, weil das “Begriffsfeld” Welt impliziert, dass es buchstäblich “alles” in sich birgt – also auch “Die Welt” selbst. Das aber gehe nicht. Die Welt könne nicht sich selbst in sich tragen, das sei wie der Versuch, zwei gleichgroße Koffer ineinander zu packen. Folglich könne es keine Welt geben.
Man sieht: Man muss Gabriels Buch nicht gelesen haben. Es ist höherer, nicht einmal sonderlich unterhaltsamer Unfug, an dem sich vielleicht noch Zenon von Elea erfreut hätte. Schon lange habe ich niemanden mehr gelesen, der so frech und stolz des Kaisers Neue Kleider spazieren führt wie Markus Gabriel.
Eine Antwort auf „Platon und das Ungeziefer (Rewind)“
[…] Nachbarn, Mücken, Radiosender, Genderwissenschaften und Rasenmäher, Weihnachtslieder, Neologismen* … Fast beängstigend, über was ich mich schon alles aufgeregt habe – und die Links oben sind […]