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Worte wie Bretter

Schreiben kann jeder. Das hat man in der Schule gelernt. Dichten ist kein Problem, sonst würden es nicht so viele machen. Es ist auch nicht weiter schwierig: Man nimmt hier ein paar Wörter, klaut dort ein paar Worte, nagelt sie mit Satzzeichen oder gerne auch ohne aneinander – fertig ist das Gedicht. Sieht das Ergebnis krumm und schief aus? Wackelt es? Kein Problem, das war so gewollt. Deine Kritik ist langweilig, neidisch, kontraproduktiv, zersetzend. Ich bin ein Dichter und du nur ein Defätist.

Mit diesem Totschlagargument wurde ich hier im Internet oder bei literarischen Analoggesprächen schon häufig konfrontiert. Hobbyliteraten wehren  sich auf diese Weise gegen Kritik. Meist werden sie dabei noch unflätiger und versteigen sich zu persönlichen Angriffen und Beschimpfungen. Ich versuche mich dann immer in Geduld:

Aber schau doch mal: Jeder kann ein paar Bretter zusammennageln und anstreichen, vielleicht noch mit dem Schleifpapier drübergehen. Das hat er in der Schule gelernt. Deshalb wird man sich aber doch niemals als Schreiner sehen. Versuche doch einmal statt einem Gedicht einen schönen Stuhl zusammen zu zimmern. Ohne sauberes ordentliches Handwerk und jahrelange Übung geht nichts. Nicht beim Tischler und nicht beim Dichter. Inspiration? Vision? Unwichtig, heutzutage gibt es eh nichts originelles mehr. Ich will mich auf keinen wackligen, hässlichen Stuhl setzen, den ein inspirierter Visionär gebaut hat.

Das war bis heute mein Gegenargument. Nun ist aber vor zwei Wochen mein Sohn Nr. 2 von zuhause ausgezogen und hat unter dem Dach Chaos und ein wackliges altes Bücherregal hinterlassen. Bei den Umgestaltungsarbeiten seiner Räume in den letzten Tagen fiel mir auf, dass ein bequeme Sitzgelegenheit für den Schreibtisch fehlte. Also machte ich aus dem Regalholz einen Stuhl:

Mein selbstgebauter Stuhl
Mein erster selbstgebauter Stuhl

Er ist gelungen, nichts wackelt. Während ich dies schreibe, sitze ich angenehm und bequem.

Jetzt habe ich allerdings ein Problem mit meiner Argumentation. Wenn jeder  – auch ich – einen schönen Stuhl zusammenschrauben kann, dann gelingt ihm das wahrscheinlich auch mit Gedichten und Romanen. Beuys würde sich über meine Erkenntnis freuen.

Jeder ist ein Schreiner, jeder ist ein Künstler.

Diedorf

2 Antworten auf „Worte wie Bretter“

Nun, äähemmm, irgendwie schon, ich sage mal so: “Der Stuhl hat eindeutig Charakter … oder so ähnlich.”

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