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Der Freitagsaufreger (XXX) – Scheuklappen

Türen, Türen, Türen.

Eine der erstaunlichsten Eigenarten des Gehirns scheint mir zu sein, wie schnell und hartnäckig es sich auf manche Dinge fixiert, die ihm vorher keine Rolle spielten und plötzlich im Mittelpunkt aller Lebensäußerungen stehen. Mit einem Mal dreht sich alles nur um eine einzig Sache, jeder Gedanke kehrt immer wieder zu ihr zurück und ein harmloser Gegenstand entwickelt sich plötzlich zur Sucht, der man nicht entkommen kann. Und ich rede jetzt nicht von Handyspielen oder Energydrinks, sondern von alltäglichen Gegenständen, genauer gesagt, von Haustüren.

Aber das sollte ich näher erläutern.

Ich glaube, der Psychologe nennt diese Fixierungen eine Déformation professionnelle oder einfach Betriebsblindheit. So behandeln Lehrer Freunde und Familienmitglieder wie Schüler und halten alle für dumm und faul, Krankenschwestern desinfizieren die Wohnung und reagieren mit professioneller Gelassenheit auf die lebensbedrohliche Erkältung ihres Mannes, Mikrobiologen sehen auf jedem Käse gefährliche Schimmelpilze, Polizisten Verbrecher und Erzieher pädagogische Fehler (also nicht beim Käse, sondern bei Menschen).

Vor einigen Jahren haben zum Beispiel Häuser von einem Tag auf den anderen einen neuen Charakter für mich bekommen. Das war in der Zeit, in der ich wegen einer chronischen Finanzschwäche bei der Post arbeitete und in wechselnden Bezirken in den mir nur allzu bekannten Straßenzügen meiner Heimatstadt Briefe zustellte. Die Häuser begannen zu leben. Die Gebäude, an denen ich bisher achtlos vorbeigegangen war, bekamen plötzlich ein Innenleben, eine Struktur. Es gab Häuser, die ich mochte, die ich gerne betrat, andere hasste ich. Das war unabhängig von ihren Bewohnern, sondern beruhte auf den Schwierigkeiten, die ich dabei hatte, sie zu betreten. Oft besaß ich keinen Schlüssel und musste – als extrem schüchterner Mensch – Reihen von Klingelknöpfen durchprobieren, bis mir jemand die Gnade erwies, mich hereinzulassen. Da ich aber einen festen, knapp bemessenen Stundensatz bezahlt bekam und es mein Privatvergnügen war, ob ich ihn über- oder unterbot, war ich immer in Eile und nahm jede Verzögerung als einen persönlichen Angriff auf meine knapp bemessene freie Zeit.

Ein eigenes Thema waren dabei die Briefkästen.  Entscheidend war, ob es eine außen angebrachte Anlage war, an der Front oder am Rückteil des Gebäudes, ob sich die Briefkästen auf mehrere Eingänge verteilten ob sie gar an den Wohnungstüren angebracht waren, ob sie sauber und auf neuestem Stand beschriftet und ihr Öffnungsspalt groß genug war, auch Langholz, also Sendungen im DIN A4-Format, aufzunehmen. Es gab  Kästen mit rasiermesserscharfen Klappen über den Öffnungschlitzen, die mir beim Zurückfallen auf die Finger schlugen und sie aufrissen oder die eingeklemmte Zeitschrift so nach unten bogen, dass sie wieder herausfiel. Häufig standen die Namen auf diesen Klappen, die durch das Langholz nach innen gedrückt und damit nicht mehr lesbar waren, was vor allem bei Hochhausanlagen ärgerlich war. Es gab Anlagen, deren unterste Kästen in Kniehöhe angebracht waren – ich hatte chronische Rückenschmerzen wie nie mehr danach –  oder sich auf zwei Seiten aufteilten. Manche Kästen wurden nur einmal in der Woche geleert oder die Tageszeitung füllte sie. Zwei, dreimal in der Woche steckten Werbe- und Stadtzeitungen zur Hälfte in den meisten Schlitzen, verdeckten die Namen und erschwerten die Arbeit. Oft standen Kinderwägen oder stinkende Mülltonnen im Weg. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ich ein solch persönliches, animistisches Verhältnis zu einem toten Gegenstand wie einem Briefkasten entwickeln könnte und es dauerte lange, bis ich in der Nacht nicht mehr davon träumte, einen befüllen zu müssen. Ich war wirklich so auf Briefkästen fixiert, dass ich mich nach ein paar Monaten bei der Post regelmäßig dabei ertappte, wie ich ganz automatisch auch nach Feierabend begann, im Vorbeigehen Häuser allein nach ihnen zu beurteilen und Freunde auf die Mängel ihrer Anlagen aufmerksam machte. Ich war komplett deformiert.

Eine ganz ähnliche Phase der Deformierung macht gerade Frau Klammerle durch. Wie ich im vorletzten Freitagsaufreger schrieb, suchen wir einen Ersatz für unsere alte Haustür. Da ich dazu neige, solche Dinge weit von mir zu schieben (der große Geist eines Schriftstellers steht über den alltäglichen Kleinigkeiten) hat sie sich dankenswerterweise in diese Aufgabe gestürzt, hat Türenläden besucht und mit Vertretern geredet, hat Kataloge bestellt und sie gewälzt und im Internet recherchiert. Die Folge war, dass ihr Leben im Moment nur noch aus Haustüren besteht. Dafür, dass sie sich alle erstaunlich ähnlich sehen und auch die Farbauswahl eng begrenzt ist, gibt es unendlich viele Variationen, mit oder ohne Ziernuten, mit abgesetzem Rahmen oder ohne,  mehrfarbig oder uni, kleine, große, schiefe, geschwungene Fenster oder gar keine, weiß, braun, anthrazit, grau, rot, blau. Dazu eine Auswahl an Klinken und das Seitenteil mit Katzenklappe nicht vergessen!

Tür

Jeden Abend zeigt mir meine liebe Frau fünf neue Türen, obwohl ich schon vergessen habe, wie die von gestern aussahen. Wir spielen mit Photoshop und passen Katalogbilder in ein Foto von unserem Haus ein. Sie will mich auf Baumessen und Frühlingsaustellungen schleppen. Sie telefoniert und trifft sich mit Freundinnen, um über Türen zu reden und bei meiner Geburtstagsfeier letzten Montag hat die ganze Familie über Türen und nicht wie sonst über die Rente diskutiert. Wenn wir mit dem Auto durch Ortschaften fahren, mäßigen wir das Tempo und spähen nach rechts und links und wenn wir einen Krimi sehen, macht sie mich zwischendurch auf die Eingangstüren der Verdächtigen aufmerksam. Inzwischen träumt sie nachts von Türen.

Diese Fixierung wird so lang anhalten, denke ich, bis wir endlich eine neue Haustür haben. Dann kehrt wieder Ruhe in unserem Eheleben ein. Bis Frau Klammerle beginnt, den Sommerurlaub zu planen, dann dreht sich unser Leben ausschließlich um Rundwanderwege in Irland…

Diedorf

2 Antworten auf „Der Freitagsaufreger (XXX) – Scheuklappen“

Wusstest du eigentlich, mein lieber Heun, oh, du bedeutendster lebender deutscher Autor mit der Kraft der zwei Herzen, dass du inzwischen 100 Kommentare auf meinem Blog gepostet hast? Ich gratuliere! Als Dank schicke ich dir die Flasche “Kellergeister”, die ich kürzlich im Keller meiner Eltern fand.

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