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Wochenlese 09.12. – 15.12.13

Während der Sonntage vor Weihnachten habe ich meine Wochenlesen der besinnlichen Jahreszeit angemessen etwas umgestaltet und stelle der Literaturempfehlung immer eine kleine Geschichte voran. Heute gibt es einen Auszug aus dem ersten Kapitel meiner längeren “Criminalerzählung”:

E. A. Poe

Das Geheimnis der Gräfin von Hohenloh

An einem recht sturmwindigen Abend Anfangs März des Jahres 1832 kehrte ich im Auftrage des New Yorker >Mercury< nach Paris zurück, um dem amerikanischen Publikum in einer Artikelserie von dem neuen Frankreich unter Louis Philippe Mitteilung zu machen. Freilich führte mich mein erster Weg nicht zur Dependance der Wochenzeitung in der Rue de Vermicelle, sondern zu meinem alten Freund C. Auguste Dupin, den ich, wie ich erwartet hatte, in seiner kleinen, nach hinten hinaus gelegenen Bibliothek, au troisième, No. 33, Rue Dunôt, Faubourg St. Germain antraf. Da ich ihn von meiner Ankunft nicht benachrichtigt hatte, erwartete ich, ihn beim zwiefachen Genusse einer Meditation und einer Meerschaumpfeife zu überraschen.

Zu meinem nicht geringen Verstaunen traf ich ihn jedoch bei den Vorbereitungen zu einer Reise an, die ihn, nach der Größe des Schrankkoffers zu urteilen, in dem er seine Bücher verstaute, mindestens bis zur Insel Sumatra führen mußte.

Ah, Edgar, da sind Sie ja endlich! Ich habe Ihre Ankunft schon für heute nachmittag erwartet. Die Post wurde wohl aufgrund des Wetters aufgehalten?“ rief Dupin seltsam erregt aus und umarmte mich so flüchtig, als hätten wir uns nicht vor Jahren, sondern erst vor Stunden getrennt.

Aber Dupin“, erwiderte ich ernstlich erstaunt, „dies geht über mein Begreifen. Ich stehe nicht an zu sagen, daß ich bestürzt bin, und mag meinen Sinnen kaum trauen. Wie war es möglich – wie konnten Sie von meiner Ankunft wissen-?“

Hier hielt ich inne und musterte ihn scharf. Erneut war es ihm gelungen, mich mit seiner analytischen Begabung zu überraschen. Er lächelte mich freundlich an; er schien wie früher ein ausgesprochenes Vergnügen an ihrer Übung – wenn nicht gar ihrer pomphaften Schaustellung – zu finden.

Nicht jetzt“, hob er abwehrend die Hand, „wir werden in den nächsten Tagen zur Genüge Gelegenheit finden, uns auszutauschen. Und ich will nicht zurückstehen, Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich darüber freue. Aber nun drängt uns Wichtigeres!“ Er griff in seine weinrote Hausjacke. Obgleich Dupin durch die Affaire um den stibitzten königlichen Brief zu einigem Wohlstand gelangt war, hatte er sich noch immer nicht von diesem fadenscheinigen und häßlichen Kleidungsstück trennen können, in dessen unergründlichen Taschen er den größten Teil seines Hausrates aufbewahrte. Und wirklich förderte er nach kurzer Suche einen Brief zu Tage, den er mir überreichte.

Es steht mir fern, dramatisch klingen zu wollen, aber es geht wohl um Leben und Tod. Deshalb finden Sie mich auch in dieser Ihnen noch nicht angemessen erscheinenden Eile. Aber lesen Sie selbst, mein lieber Edgar, lesen und urteilen Sie“, drängte er mich. Ich öffnete den Brief, der nur aus einem einzigen Blatt bestand und erstaunte mich am Absender:

treu angehörig – Weimar am Freitag den 17. Februar 1832 – J. W. v. Goethe’, las ich auf Deutsch am Ende der Seite in einer unruhigen Handschrift.

Goethe? Dupin, Sie überraschen mich auf’s Neue. Sie im Briefwechsel mit dem Deutschen Dichterfürsten!“

Nun, der alte monsieur conseiller ist ein fleißiger Briefeschreiber“, erwiderte Dupin ruhig, während er erneut das Kofferpacken aufnahm. “Zumalen er die correspondence schon seit Jahren seinem Sekretär John diktiert. Obgleich meine Wenigkeit ebenfalls eine dichterische Ader pochen fühlt, ist es doch eher die gemeinsame Liebe zur Wissenschaft, die unseren Gedankenaustausch förderte.“

Ich nickte verwirrt. Wie wenig wußte ich von diesem Menschen, mit dem ich während meines ersten Parisaufenthalts die Wohnung geteilt hatte und der zu den wenigen Freunden zählte, die ich auf der Welt hatte.

Um so mehr interessierte mich daher, welcher Art der Briefwechsel zwischen Dupin und Goethe war. Ich öffnete also erneut das Blatt und las:

Nach einer langen unwillkürlichen Pause habe ich auf Ihr sehr wertes Schreiben, mein Teuerster, wahrhaftest zu erwidern, daß ich in unsrer gemeinsamen Sache einige Fortschritte getan.

Wir sind einig, Dupin, es war nicht Schillers Sache, mit einer gewissen Bewußtlosigkeit und gleichsam instinktmäßig zu verfahren, vielmehr mußte er mit mir über jedes, was er tat, reflektieren; woher es auch kam, daß er über seine Ideen nicht unterlassen konnte, sehr viel hin und her zu reden, so daß er alle seine Stücke mit mir durchgesprochen hat. Dies gilt auch für die von Ihnen in Erwähnung gebrachte abgebrochne Erzählung, die in der Tat, wesgleichen Sie insistierten, auf einem Zeitungsbericht beruhte, der Schillern in Jena um 1790 begegnete.

Es ist ein eignes Ding mit der Erinnerung, sie erweiset sich wie ein neckisches junges Mädchen, das uns durch tausend Reize anlockt, aber in dem Augenblick, wo wir es fassen und zu besitzen glauben, unseren Armen entschlüpft. Ich teilte Ihnen noch in meinem letzten Briefe mit, ich hätte kein Gedächtnis von der Geschichte und ihrer Fortsetzung, so wenig als ich vom Abschluß der Geisterseher wüßte – habe mich jedoch geirrt. Tatsächlich ist mir bei einer Durchsicht meiner grenzenlosen Papiere der Name der Gräfin wieder eingefallen und ich weiß plötzlich auch erneut ob der Mutmaßungen, die Schiller um den gewaltsamen Tod ihrer Ehegatten angestellt und wen er dieser ruchlosen Taten verdächtig machte.

Verzeihen Sie, Dupin, einem alten Manne, wenn seine Erinnerungen ein wenig sprunghaft erscheinen; verzeihen Sie ihm abermalen, wenn er einer Grille, die ihm durchs Gehirn lief, nachging und in seinen Akten ein wenig Polizeicommissar spielte; denn der Mensch will immer tätig sein und kann und soll seine Eigenschaften weder ablegen noch verleugnen. Gar selten tut er sich selbst genug, desto tröstender ist es, andern genug getan zu haben:

Daher darf ich Ihnen die Mitteilung weiterreichen, die verwitwete Gräfin Bianca von Hohenlohe, – da steht nun endlich ihr Name – lebe noch und erfreue sich guter Gesundheit. Sie habe sich nach dem so tragischen wie rätselhaften Tode ihres vierten Gatten nicht mehr verheiratet und lebe von der Welt geschieden auf dem Gute ihres sel. Vaters, dem Grafen Ludewig von Metzenstein, im Thüringischen. Bei einem unserer wöchentlichen Treffen gelang es mir nun, die Großherzogin Maria Pawlowna zu bereden, die Gräfin zum Frühlingsfest an den Hof zu laden. Ich bin überzeugt, aus dem Munde der Hauptperson Näheres über unseren Fall und darüber zu erfahren, ob denn Schillern mit seiner Verdächtigung betreffs der Morde recht dachte oder ob es ihm an den Kräften fehlte, die rechten und wahren Motive zu finden.

Verzeihung diesem verspäteten Blatte! Ohngeachtet meiner Abgeschlossenheit findet sich selten eine Stunde, wo man sich die Geheimnisse des Lebens vergegenwärtigen mag.

treu angehörig – Weimar am Freitag den 17. Februar 1832 – J. W. v. Goethe’

Ich legte das wertvolle Papier vorsichtig auf den Büchertisch.

Ein interessanter Brief, Dupin, in der Tat! Auch wenn ich nicht behaupten kann, alles verstanden zu haben. Aber aus welchem Grund meinen Sie denn, es ginge hier um Leben und Tod? Und weshalb packen Sie? Sie fahren doch wohl nicht nach Deutschland-“

-direkten Wegs ins Großherzogtum von Sachsen-Weimar-Eisenach, an den Frauenplan zu Weimar, zu Herrn Goethe, um explizit zu sein. Ich habe eine Privatpost abonniert, die uns noch heute Nacht gen Frankfurt befördert. Ach, was gäbe ich für eine Personenbahn, wie sie eben zwischen Manchester und Liverpool eröffnet wurde. Die Zeit läuft uns davon! Wenn ich den Brief nur eher bekommen hätte!“

Mit diesen zornigen Worten warf mein Freund ein letztes Buch in seinen Koffer und schloß ihn mit Nachdruck. Nun erst sah er auf und mein Erstaunen. Er seufzte leise und kramte aus der abgründigen Jackentasche seine Uhr hervor. Dann setzte er sich in seinen Ohrensessel und wies auf meinen Platz ihm gegenüber, der mir nicht danach aussah, als habe ihn Dupin in den Jahren, in denen ich ihn nicht mehr beansprucht hatte, jemals verrutscht. Und während ich mich ebenfalls setzte, war mir, als wäre ich in der Zeit zurückgegangen zu jenen Abenden, an denen wir hier nur mit der Hilfe der Verstandeskraft – Dupins, versteht sich – die rätselhaftesten Verbrechen aufzuklären vermochten.

Einige Minuten werden uns noch bleiben, teurer Edgar. Sie haben doch, wie ich vermute, Ihr Gepäck noch bei sich“, sagte Dupin und führte mich zurück in die Gegenwart dieses unfreundlichen Märzabends. Wie immer blätterte er in meinen Gedanken wie in einem geöffneten Buche.

Da ich direkten Weges von der Kutsche zu Ihnen eilte – ließ ich die Koffer unten bei der Concierge unterstellen – hoffte ich doch wieder bei Ihnen Wohnung zu finden. Aber ist denn der Herr von Goethe krank? Sein Brief rechtfertigt ein solches Vermuten nicht.“

Nach dem Tode seines Sohnes August vor zwei Jahren schien es schon mit ihm zu Ende zu gehen, aber nun erfreut sich der Geheimrat – so weit mir bekannt – wieder einer für sein hohes Alter ordentlichen Gesundheit. Nach seinem Brief muß ich jedoch besorgen, daß er sich den Teufel ins Haus geholt hat.“

Sie sprechen von der Witwe, Dupin, jener Gräfin zu Hohenloh“, vermutete ich.

Oder ihrem Umfeld – wir wollen da keine voreiligen Schlüsse ziehen. Die objektive Tatsache ist nun: Diese wahrhaft „schwarze Witwe“ hat alle ihre Ehemänner überlebt und jeder von ihnen wurde ermordet.“ Dupin legte wie in einem Gebet die Finger aneinander und hob sie an seine Lippen.

Ja, ich fürchte auf das Schlimmste“, sagte er besorgt und schien gewillt, weitere Mitteilungen zu machen. In diesem Moment wurde er jedoch in seinen interessanten Ausführungen von der Concierge gestört, die an die Tür der Lesestube klopfte und die Ankunft der bestellten Extrapost meldete. Dupin sprang auf.

Die Gräfin wird zum Frühlingsfest in Weimar erwartet. Folglich müssen wir vor ihr bei Goethe sein“, rief er. „Helfen Sie mir mit meinem Koffer, Edgar? Was stehen Sie denn da herum? So kommen Sie, jede Minute ist kostbar. Hätten Sie sich nicht verspätet, könnten wir morgen früh schon in Reims sein.“ Gehorsam trat ich vor.

Aber, Dupin, denken Sie an meine Arbeit. Ich kann doch nicht einfach – “, fiel mir ein. Ich ließ den Koffer wieder fallen. Dupin stolperte mit seinem Gewicht nach vorn.

Mache Sie sich keine Gedanken, dafür ist längst eine Lösung gefunden. Ich habe kürzlich die Bekanntschaft eines jungen Deutschen gemacht, der gleich Ihnen vor Ort ist, für seine Zeitung über die Französischen Zustände zu berichten. Er wird Ihnen seinen Artikel für den März überlassen; sie brauchen ihn dann nur mehr ins Englische übertragen. Und seien Sie versichert, dieser Herr Heine denkt so republikanisch wie Ihr Publikum in den Staaten.“

Was konnte ich noch sagen, welche Ausflüchte vorbringen? Bin ich doch immer leicht formbares Wachs in den Händen meines Freundes gewesen und – ich gesteh’s! – nur allzu leicht zu solch einem formidablen Abenteuer zu überreden, das mich zudem der Bekanntschaft eines bewunderten Dichters nahebrachte – spielte ich doch nach meiner unglücklichen Militärzeit ernsthaft mit dem Gedanken, ebenfalls Schriftsteller zu werden.

So darf es nicht Wunder machen, daß ich entschlossen Dupins Schrankkoffer wieder aufnahm und uns ein windiger und regnerischer Märzmorgen etliche Meilen hinter Paris über aufgeweichte und holprige Landstraßen eilend fand, mit dem Ziel, das Leben des Herrn von Goethe zu retten. […]

E. A. Poe

Ausgerechnet  der Feder des trunksüchtigen und allen magnetischen und krankhaften Geisteszuständen zugeneigten Edgar Allan Poe entstammt der erste ‘moderne’ Detektiv, der allein durch seine scharfe Beobachtungsgabe und seine Deduktionskräfte seine Fälle löst. Insgesamt dreimal ließ er C. Auguste Dupin, den kühlen Berater der Pariser Polizei, ermitteln und schuf damit den Urvater von Detektivfiguren wie Émile Gaboriaus Inspector Leqoc oder Conan Doyles Sherlock Holmes, welcher ohne Poes Sonderermittler überhaupt nicht denkbar wäre. Trotzdem äußert sich Holmes selbst gegenüber Watson in Eine Studie in Scharlachrot über Dupin äußerst herablassend.
Ich nahm eine unvollendete Ballade von Friedrich Schiller zum Anlass, Dupin ein weiteres Abenteuer in Weimar erleben zu lassen, wo er den Mord an Goethe aufzuklären hat. Obwohl es nicht einfach war, den umständlichen Stil Poes nachzuahmen, war es ein wirkliches Vergnügen, mir diese Geschichte auszudenken…

Diedorf

2 Antworten auf „Wochenlese 09.12. – 15.12.13“

Ach hätte man, respektive eine schwarze Witwe Goethe nur gleich nach seiner Geburt ermordet. Generationen von ohnehin gequälten Schülern wäre viel weiteres Leid erspart worden.

Hier noch der Balladenentwurf von Schiller:

„Bianca, eine reiche und edle Gräfin von***, war dreimal vermählt worden, und allemal hatte man den Bräutigam getötet am anderen Morgen gefunden. Die allgemeine Sage ging, daß ein Geist, der in der Burg hause und dem nicht zu entfliehen sei, dieses getan. Kein Freier wollte sich mehr zeigen, so schön, reich und edel auch die Gräfin war und so geneigt auch ihr Vater gewesen sein würde, seine Einwilligung zu geben. Sie hatte von ihren Männern keinen geliebt und bloß den Willen ihres Vaters vollzogen.
Ein junger Edelmann, mutig und verliebt, hörte von dieser Geschichte. Er sah die Braut, sie bezauberte ihn, und er beschloß, sein Glück zu versuchen.
Man will ihn abschrecken, er spottet über den Aberglauben und trägt sich ihrem Vater an.
Diesem gefällt er außerordentlich, aber eben darum will der Vater die Heirat nicht zugeben.
Don Leira wendet sich an die Schöne selbst, die für ihn die erste Liebe empfindet, aber eben darum davor schaudert, ihm ihre Hand zu geben, weil sie ihn für unrettbar verloren hält.
Er bringt es aber doch zuletzt dahin, daß in die Vermählung gewilligt wird, er führt sie zum Altar und fühlt sich als den glücklichsten Menschen im Besitz s. schönen Geliebten.
Die Nacht kommt heran…“

Schiller, Balladenentwurf

Ach, ja, und an Herrn Heun:

‚Mit solchem Rätselkram verschone mich!
Und kurz und gut: was solls? Erkläre dich!’

Goethe, Faust II

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