Meine Faulheit oder “Was du heut nicht willst besorgen, das verschiebe ruhig auf morgen.”
Faulheit, jetzo will ich dir
Auch ein kleines Loblied bringen. –
Ach!… ich… gähn… ich… werde matt…
Nun… so… magst du… mirs vergeben,
Dass ich dich nicht singen kann;
Du verhinderst mich ja dran.
Lessing
09:30 Uhr. Ach, ist schon wieder Freitag? Wie schnell doch so eine Woche vorbei ist. Wollte ich diesmal nicht frühzeitig etwas für meinen Aufreger vorbeiten, damit ich nicht wieder blank dastehe und in Zeitnöte komme? Worüber soll ich nur schreiben? Über Faulheit, genau. Aber dazu fällt mir nichts ein. Es ist wohl besser, ich gehe in die Stadt und frühstücke im Caféhaus. Da wird mir schon was einfallen; mir fällt ja immer etwas ein. Ein großer Geist braucht eben seine Muße. (1) Arbeit ist kein Frosch, pflegte meine Mutter immer zu sagen, die hüpft nicht weg.
12:30 Uhr. Ich hatte ein Augsburger Frühstück: Butterbrezel und Cappuccino. In der Buchhandlung meines Vertrauens haben sie die Billig-Buch-Kiste neu gefüllt. Ich kaufte mir die ersten Lebkuchen der Saison und bin ein wenig spazieren gegangen. Was ich über meine Faulheit schreiben will, weiß ich noch immer nicht. Langsam müsste ich mal anfangen zu arbeiten, sonst wird das heute nichts mehr. Ich werde mir jetzt mal einen Pott Tee machen und einen von den Schoko-Lebkuchen versuchen. Dann setze ich mich an meinen Schreibtisch. Zeit wird’s ja.
14:30 Uhr. Apropos: Das Zeitmagazin war diesmal auf Französisch. Bis ich Martenstein übersetzt hatte, dauerte es eben eine Weile. Und das doofe Sudoku habe ich auch nicht gekonnt. Jetzt schreibe ich aber meine Kolumne, ganz bestimmt! Vorher sollte ich vielleicht noch den Kamin anheizen. Und mich zur Katze legen, ein kurzes Nickerchen machen. Fünf Minuten reichen…
15:00 Uhr. Von wegen Faulheit! Prokrastination! Oh Gott, ich habe also Prokrastination! Ehrlich, ich habe meine Krankheit eben im Internet nachgeschlagen. Was für eine tolle Erfindung ist doch Google; man tippt seine Symptome in das Suchfeld und erfährt zuverlässig, was man gar nicht wissen wollte, an welcher Neurose oder lebensbedrohlichen Krankheit man leidet. Ich habe Muskelkater? Fibromyalgie! Ich fürchte mich davor, schöne Frauen anzusprechen? Venustraphobie! Oder sie gar zu küssen? Philematophobia! Ich will sie auch nicht heiraten? Gamophobie! Fürchte mich vor einer Erkältung? Frigophobie! Ich leide an der Welt? Urbietorbiphobia!
Die Symptome meiner seelischen Erkrankung sind ganz klar: Ich hasse es, die Steuer zu machen, ich bin lustlos, ein Meister des Aufschiebens, Ausredens, Ausweichens, ich lümmle im Caféhaus herum, drücke mich vor jeder Arbeit, ermüde schnell. Jetzt weiß ich endlich, dass ich nicht einfach nur faul bin, sondern ein Opfer meiner verkorksten Psyche. Wie immer war die Erziehung schuld. Hätte ich das nur früher gewusst; dann hätte man mich bereits im Kindesalter behandeln können. Ich wäre pünktlich am Morgen aufgestanden und nicht erst, nachdem mich meine Mutter aus dem Bett gejagt hatte, ich hätte mir im Bad die Zähne geputzt und mich gewaschen und mich nicht noch einmal für fünf Minuten auf den flauschigen Badvorleger nahe der Heizung gelegt. Dann hätte ich immer die Straßenbahn gekriegt, wäre nie zu spät im Unterricht erschienen, hätte nicht heimlich unter der Bank “Jerry Cotton” (2) gelesen oder die Blätter am Baum vor dem Klassenzimmer gezählt. Vielleicht hätte ich sogar meine Hausaufgaben gemacht, statt nur so zu tun oder Gedichte (möglichst kurze natürlich!) zu schreiben oder noch etwas Schlaf nachzuholen. Ich wäre nicht zweimal durchgefallen, hätte nicht zwei Studiengänge abgebrochen und wär jetzt ein bedeutender Mann. Die Frauen lägen mir zu Füßen.
Nichts von alledem! Ich bin ein chronischer Faulenzer. Ich stehe nicht pünktlich am Morgen auf, ich putze mir mit Kaffee die Zähne, erscheine – wenn überhaupt – zu spät in der Arbeit, lese heimlich unter dem Schreibtisch Heidegger (2) oder schaue mal schnell bei Facebook vorbei. Und das Schlimmste: Wenn ich meine Kolumnen schreibe (wie immer auf den letzten Drücker – oh, Gott, es ist schon halb vier!), lüge ich wie gedruckt, weil einfache Lügen sich schneller tippen lassen als die komplizierte Wahrheit. Hatte ich nicht noch auf meiner Festplatte einen Text herumliegen, der zwar nicht ganz passt, den ich aber hier einfügen kann, um meine 800 Wörter vollzumachen? Genau:
Eine traurige Existenz… Und ich kann ihr nicht entkommen, denn ich bin ja nicht faul, ich habe Prokrastination. Mein Weg in die Hölle ist mit Sofas, Computerspielen, Sudokus, Fernsehen, der Familie, Einkaufen, Essen, mit Ausreden, Verpflichtungen, Müdigkeit, Urlaub, Gartenarbeit, Sprachlosigkeit, dem fehlenden treffenden Wort, Ideenlosigkeit, Kaffeepausen, vollen Mülleimern und leeren Bierkästen, Waagen und Gewichtstabellen, Terminen und ein wenig auch dem Brotverdienst, mit Augenkontakten, Angst vor leeren Blättern, vor Häme, vor Qualitätsmängeln und Qualitätsverlust, vor Kritik und vor Alzheimer, aber auch mit Verdauung, Krankheit, Alter, Kopfschmerz (gleichgültig, ob psychosomatisch oder echt), innerer Leere, Bewegungslosigkeit, roten Ampeln, Vojeurismus und vor allem mit Büchern, Büchern und Büchern gepflastert.
Ich kann eine Menge Dinge tun – Hauptsache, es ist nicht die Arbeit, die ich gerade machen soll. Da fällt mir ein, die Wochenlese am Sonntag….
Ach, da wird sich schon noch etwas ergeben.
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(1) Oder eine ‘Muse’. Auf jeden Fall eines von beiden. Es ist an der Zeit, mal wieder Frau Klammerle zu loben. Ohne sie kann ich nicht sein, sie ist mir Muse und Muße in einem! Und der Tritt in den Hintern, den ich regelmäßig benötige.
(1) Die ideale Lektüre für einen Schulvormittag. Ein Band reicht exakt für 6 Stunden Unterricht.
(2) Die ideale Lektüre für einen Bürotag. Ein Satz reicht exakt für 8 Stunden Arbeit.