Wochenlese 04.11. – 10.11.2013

Morgen ist Martinstag und es ist Regen angesagt. Die Laternen der nassen und frierenden Kinder werden zischend verlöschen und aufweichen, wenn der Umzug nicht gleich in einer muffigen Turnhalle stattfindet; immer schön im Kreis herum. Dann gibt es zwar mehr „Laterne, Laterne“, aber noch weniger „Sonne, Mond und Sterne“ und auch das Abschlussfeuer erweist sich als eine schwierige Herausforderung. Das Quängeln und Weinen der lieben Kleinen wird die Nerven der Eltern bis hin zur herausgeforderten körperlichen Züchtigung und weit darüber hinaus strapazieren. Ein gelungenes Familienfest, so ein Martinsumzug, jedes Jahr von Neuem ein Höhepunkt der Familienaufstellung.

Dieser Martin aber! Dieser: ach, so bescheidene, dieser: ach, so heuchlerische Römische Offizier, dessen Name ausgerechnet der Kriegerische bedeutet und den die Kirche uns als Paradigma christlicher Barmherzigkeit präsentiert, er wird auf seinem weißen, gut im Futter stehenden Pferd geritten kommen und Rosinenbrot verteilen. (1)

Unter Dutzenden von verhungernden und leprakranken Bettlern, die nicht zuletzt deshalb vor den Toren der Stadt Amiens, damals Samarobriva genannt, frieren und leiden, weil die brandschatzenden Truppen des damaligen Unterkaisers Julian, zu denen der Offizier angehört, die Stadt geplündert haben, wird er sich einen herauspicken und wird ihn mit einem halben Reitermantel beglücken; kein Geld, kein Wasser, keine Nahrung, kein Harz IV., nicht einmal der Tod: Ein rotes Stück Stoff ist seine Barmherzigkeit.

Dabei will Martin nicht den ganzen Mantel opfern, er, der nur in die Stadt zum Quartiermeister eilen muss, um sich einen Neuen zu holen und der doch genau weiß, dass zwei Hälften nie ein Ganzes ergeben. Dann wird er zufrieden mit sich und seinem Gott weiterreiten und einen Verhungernden zurücklassen, der unter dem zu kurzen Mantel, unter dem sein nackter Fuß hervorsieht, so lange ein bisschen weniger frieren wird, bis ein weiterer römischer Soldat das halbe Kleidungsstück als Armee-Eigentum erkennen und zornig konfiszieren wird. Nun, Martin ist später Bischof in Tours und heilig; den Bettler hat man wahrscheinlich erschlagen, wenn er nicht über kurz an Hunger oder Krankheit starb, sein Name ist nicht überliefert; aber er diente der Erbauung der Gläubigen…

Martin1

Der äußerst lukrative und erfolgreiche Feldzug des Julian (331 – 363) gegen die Alamannen, an dem der Hl. Martin auf der Gewinnerseite teilnahm(2), diente dem gerade erst unter seinem Cousin Constantinus II. Mitregent gewordenen und äußerst ehrgeizigen jungen Unterkaiser zur Festigung seiner Macht: Er brauchte Geld und treue Legionen. Beides konnte er sich erst in Germanien und dann in Gallien sichern. Noch während seiner Eroberungen wurde er zum Oströmischen Kaiser ausgerufen. Kaiser Julians Regierungszeit ist eine Phase der Restauration. Er degradierte das eben erst unter Konstantin I. (288 – 337) zur Staatsreligion ausgerufene Christentum zu einer jüdischen Sekte unter vielen und versuchte mit aller Staatsgewalt, einen diffusen neuplatonischen Glauben einzuführen, der auf der alten Vielgötterei beruhte und den Sonnengott Helios in den Mittelpunkt stellte. Seine sehr tradtionellen Sonnengesänge „An den König Helios“ erinnern an Echnaton und bemerkenswerterweise auch an Franziskus. Ob er diesen Wandel aus Überzeugung, aus Atheismus oder aus Machtpolitik einleitet, darüber haben Historiker (2) heftig diskutiert. Für die Kirche ist er jedoch ein Abtrünniger, ein Ketzer: Julianus Apostata. Eine Wahrheit ist schwierig auszumachen, denn der Mensch der Spätanike versteckt sich geschickt hinter Regeln und Konventionen.
Julian ist nicht lange Kaiser. Schon in seinem dritten Regierungsjahr stirbt er überraschend und sein Nachfolger Jovianus – übrigens während seiner Soldatenzeit ein Freund des Hl. Martin – macht alle Reformen eilig rückgängig.
In der Literatur jedoch hat Julian nachhaltige Spuren hinterlassen. Eine Unzahl Autoren hat seit der Sätantike über ihn und seinen Kampf gegen das übermächtig werdende Christentum geschrieben, jene historische Chance, die durch einen leichtfertigen Tod in einer unnötigen Schlacht vergeben wurde. Wie würde Europa heute aussehen, wenn Byzanz heidnisch geblieben wäre? Autoren wie Eichendorff, Motte-Fouqué und Ibsen schrieben über oder gegen ihn, selbstredend auch der unsägliche Felix Dahn und der in den dreißiger Jahren sehr erfolgreiche, aber heute recht unbekannte, stark von Dostojewski geprägte Dmitri Mereschkowski, der Julian und seine Zeit in einem umfangreichen und durchaus lesbaren Roman darstellt.(4) Diese Liste ließe sich noch beliebig verlängern. Einen Autor will ich  nennen, der – nicht überraschend – als Einziger Julians mutmaßliche Homosexualität in den Fokus rückt:

VidalGore Vidal
Julian, btb 1999

Dieser Briefroman des erst im letzten Jahr hochbetagt verstorbenen amerikanischen Autors, der auch hier – wie immer in seinen historischen Werken – versteckt über die verlogene amerikanische  Politik im Allgemeinen und den Kennedy-Clan im Besonderen schreibt, ist gut recherchiert und konstruiert und ein idealer Einstieg, wenn man sich für die wahren Hintergründe der gärenden Endzeit des römischen Reiches interessiert, deren geistige Auseinandersetzungen zwischen Christ und Antichrist den Martin prägten, jenes Heiligen, der heute so harmlos auf seinem Pferd daher geritten kommt und sich von Kindern und Laternen begleiten lässt.

_______________

(1) Nun, nicht überall, die Linke und ein paar besonders politisch korrekte Kitas haben den armen alten St. Martin abgeschafft; man könne es Nichtchristen nicht zumuten, mit einem Heiligen aus dem katholischen Jahreskreis konfrontiert zu werden.

Ich kenne keinen Moslem, Hindu oder Atheisten, der mit St. Martin ein Problem hat, denn Barmherzigkeit ist auch ihnen bekannt. Es geht also wahrscheinlich um etwas ganz anderes.

(2) Die Überlieferung sagt, der schüchterne Martin habe ein paar Mal den Dienst an der Waffe verweigert und dafür Büroarbeit gemacht. Als ich mich bei meiner ersten Kriegsdienstverweigerung auf Martin berief, wurde ich ausgelacht.

(3) Noch immer ist das Standardwerk „Julian, der Abtrünnige“ von Joseph Bidez aus dem Jahr 1940, das es nur noch antiquarisch oder in Büchereien gibt. Eine aktuelle, dabei auch für Geschichtslaien gut lesbare Gesamtdarstellung stammt von dem Althistoriker Klaus Rosen. „Julian. Kaiser, Gott und Christenhasser“, Klett-Cotta, 2006

(4) Kostenfrei als Ebook bei Amazon.

2 thoughts on “Wochenlese 04.11. – 10.11.2013”

  1. Wieder einmal ein böser Klammer, ein schändlicher Lästerer wider den einzig wahren Glauben. So etwas aber auch: Kinder, die beim fromme Lieder singen in einer muffigen Turnhalle im Kreis herum laufen … … und später gar Formel-1-Rennfahrer werden?

Kommentar verfassen

Related Post

Entdecke mehr von Nikolaus Klammer

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen