Wochenlese 20. September – 06. Oktober 2013

„Da ein Lebewesen ein empfindliches Instrument ist und […] durch Freude, Schmerz, Hunger, Durst, Krampf, Bewunderung und Schrecken in gleicher Weise bewegt wird, so ist es unmöglich, das es am Pol andere Töne hervorbrächte als am Äquator.“

Diderot, Unterhaltung mit d’Alembert

Die große literarische Welt feiert in diesen Wochen den Buchherbst. Jeder Zeitung liegt ein Literaturheft bei, Verlage und Leser rüsten sich zur Buchmesse, Autoren und ihre Verleger zittern der lukrativen morgigen Verleihung des Deutschen Buchpreises und der baldigen Bekanntgabe des Nobelpreises für Literatur entgegen (Welchen exotischen Schriftsteller werden die Schweden wohl diesmal ausgraben?) und entdeckt begeistert brasilianische Autoren (Wer ist das eigentlich, der mir vorschreibt, welche Schriftsteller ich entdecken soll?). In würdevoller Erinnerung hakt der Deutsche Feuilleton den gestrigen 300. Geburtstag des Radikalaufklärers und Philosophen, Schriftstellers und Enzyklopädisten Denis Diderot (1) ab. Sogar die kleine Buchhandlung in meinem Dorf begeht den Buchherbst mit einem „literarischen Quartett“.

Und was mache ich? Ich habe kürzlich mit meinem Freund Hans-Dieter Heun auf FB eine literarische Gruppe gegründet, die wir nicht ohne Hintersinn „Arme Poeten“ nannten. Dort wollen wir in einer virtuellen Sofaecke sitzend angeregt genau diese Fragen diskutieren; Lyrik und Prosa der Mitglieder besprechen und über Kunst und Kultur im Allgemeinen diskutieren. Obwohl es eine geschlossene Gruppe ist, öffnen HD und ich gerne deren Eingangstür für jeden, der sich mit uns über diese Themen unterhalten oder sein Werk in privater Runde besprochen haben möchte. Auch jeder meiner Blog-„Konsumenten“, den die FB-Beliebigkeit, das sinnleere „Gefällt mir“ und die Datenunsicherheit nicht so stark anekeln, dass er deshalb sein Konto dort strich oder niemals eines besaß, sei herzlich eingeladen. Obwohl wir bei den „Armen Poeten“ selbstverständlich freundlich miteinander umgehen wollen, wie es sich für Kulturmenschen geziemt, waren wir der Meinung, selbige auch mal kontrovers zuzulassen.

Ein paar Anregungen habe ich tatsächlich bereits aus den der Natur der Sache geschuldeten „Sprechblasen“-Gesprächen gewonnen und ich arbeite deshalb neben all den anderen Dingen, die mich umtreiben, auch an einem Essay über den Begriff der Kultur, dessen Schreiben mich hoffentlich mehr ermüdet als das Lesen desselben. Womit ich allerdings überhaupt nicht rechnete, war, dass die Augen einiger Mitglieder der „Armen Poeten“ ihnen eine völlig andere Welt zeigen als die, durch die ich auf diese Welt blicke. Fassungslos stehe ich manchen Äußerungen gegenüber und frage mich, welche Kulturalisation solche Blüten wachsen liese, wie sie die gerade dieses Wochenende fast an Rousseau’sche Pathologien heran reichten.

Holbach

Baron Holbach

Wie ein Blitz erleuchtet mich gerade eine Erkenntnis und plötzlich weiß ich, woran mich das alles erinnert: Die „Armen Poeten“ sind wie der Salon des Barons Paul Thiry d’Holbach (1675–1753), dessen Aussehen, Lebensart und Einstellungen bis in die Details hinein von Hans-Dieter Heun perfekt gespiegelt werden. Zu seinem und meinem Bedauern fehlt den Poeten allerdings eine Hauptattraktion des Holbach’schen Salons: Sein Weinkeller und die beneidenswerte Reputation seines Kochs La Chapelle. Wer abends zu Holbach kam, ging im Morgengrauen nicht nur von den Gesprächen trunken und satt. Um das heutige Motto noch einmal zu zitieren, das von Holbachs bestem Freund Denis Diderot (1713 – 1787), dem nicht zu Unrecht nachgesagt wurde, dass er nur Bücher im Kopf habe, stammt: „Holbachs Salon ist der Pol, der die gleichen Geräusche wie der Äquator hervorbringt.“ Moderner ausgedrückt:

Was der Kopf sagt, brummt auch der Hintern.

Diderot

Denis Diderot

Und so tummeln sich nicht nur bei den „Armen Poeten“, sondern auch in allen anderen virtuellen Räumen der zeitgenössischen „Afterpoeten“ in all den literarischen Foren, Gruppen und Seiten ein auf nicht viele Literaten eingrenzbarer Personenkreis aus religiösen Menschen und überzeugten Atheisten, Veganern und Carnivoren, Katzen- und Hundeliebhabern, Angebern und Schüchternen, Logikern und Cholerikern, Witzbolden und Todernsten. Es gibt Möchtegern-d’Alemberts, Voltaires und Humes, Rousseaus beiderlei Geschlechts, einen Friedrich Melchior Grimm, einige Ausgaben der Madame Helvétius und eben auch einige Diderots, spritzige, sprudelnde Denker, die überall mit dem, was sie sagen, anecken. Sie reden sich die Köpfe heiß, wiederholen erregt Dispute, die diese Radikalaufklärer schon vor 250 Jahren führten (2). Sie führen wie sie Gespräche über Literatur, Philosophie und Kritik, machen geistige Höhenflüge und Bauchlandungen, aber es gibt auch massenhaft Missverständnisse, verletzte Eitelkeiten, Kränkungen und Streitereien. Hier wie dort sind pseudonyme Veröffentlichungen zu finden, sogar eine Obrigkeit, die das eine oder andere zensiert oder gar verfolgt… alles schon einmal dagewesen; allerdings war das während der Aufklärung noch eine gefährliche Sache, man spielte keine gutbürgerliche Komödie, sondern ein existenzielles Drama.

„Was für eine Komödie wäre diese Welt, wenn man nicht selber eine Rolle darin spielen müßte.“

Diderot

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(1) Inzwischen finden sich Diderots wunderbare Werke „Rameaus Neffe“ und die eben mehr schlecht als recht verfilmte „Nonne“ als E-Books bei mobileread.com, wo fleißige Enthusiasten langsam eine bemerkenswerte Klassikerbibliothek aufbauen. (Anmerkung vom 14.11.13)

(2) Wen das alles näher interessiert, den verweise ich auf das Buch Böse Philosophen von Philip Blom und meine Kritik desselben in den Wochenlesen.

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