Da sich niemand gemeldet hat, dem meine bisherige Vorgehensweise misshagt – allerdings bekam ich auch keine gegenteilige Nachricht – mache ich weiter. Es gilt wie bisher: Für alle Anmerkungen bin ich dankbar. Ich möchte versuchen, diesen Roman gemeinsam mit meinem “Publikum” zu schreiben.
Ich drehte erschrocken den Kopf. Neben mir stand ein stämmiger, älterer Mann, den ich auf den ersten Blick für einen Fischer hielt. Er trug wie ich dünne Segeltuchschuhe und eine kurze, ausgewaschene Jeans, dazu allerdings ein blau-weißes, quergestreiftes Shirt mit langen Ärmeln. Sein ovaler Schädel, auf dem nur noch ein dünner, kurzgeschnittener und weißer Haarkranz wuchs, die hohe Stirn, die dunklen, dabei schalkhaften und neugierigen Augen und hochgezogenen Brauen, die gerade, fleischige Nase, seine dicken, halb lächelnden Lippen zwischen tief eingegrabenen Mundwinkeln, ein prägnantes Kinn – all das schenkte ihm das Aussehen der Portraitbüste eines spätrömischen Kaisers. Ich war mir in diesem Augenblick sicher, dass ich diesen Mann schon oft auf Abbildungen gesehen hatte. Ich sah ihm zweifelnd in die Augen. War er die versprochene Hilfe?
„Die brauche ich wirklich, Pablo“, erwiderte ich, denn plötzlich wusste ich, wer da neben mir stand – so absurd das auch sein mochte, denn schließlich war er ja schon vor fünfzehn Jahren gestorben. Aber ich hatte mir vorgenommen, mich über nichts mehr zu wundern. „Ich muss da rauf“, deutete ich auf den Pfad, „es geht um Leben und Tod.“ In welcher Sprache unterhielten wir uns eigentlich? Mein Französisch war zu schlecht, um mich frei zu artikulieren und spanisch sprach ich überhaupt nicht. Dass er deutsch konnte, war mir neu. Aber das gehörte wahrscheinlich zu meinem Traum. War diese Welt hier vielleicht eine Kopie der Côte d’Azur um die Ortschaft Antibes? Gab es dort solch einen gewaltigen Dom oder eine Kreuzfahrerburg?
Ich meine, spielt das überhaupt eine Rolle?
‘Der Alte hat den stämmigen Maler vielleicht einfach aus meinem Unterbewusstsein gezogen und manifestiert‘, ging mir zuerst durch den Kopf, als wir den Weg hinauf zur Burg in Angriff nahmen und ich mich mit dem ganzen Gewicht meines Oberkörpers auf Pablos hilfsbereite Schultern stützte. Ich verwarf diesen Gedanken aber wieder, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Macht des Mannes so weit ging. Ich wehrte mich gegen die Vorstellung, wie er mit seinen Fingern in meinem Gehirn wühlte und dabei ausgerechnet die eine Person zu Tage förderte und zum Leben erweckte, die ich so sehr bewunderte. Es war viel wahrscheinlicher, ich hatte Pablo in meiner Not selbst gerufen, ihn, den Schutzheiligen aller Künstler, auf dass er mir zur Seite stand. Wie dem auch war, ich lag in seinen starken Armen und ich konnte mir trotz der Situation eine Frage nicht verkneifen:
„Pablo – welches ist dein Lieblingsbild?“ Ich meine – verstehe mich recht – diese Chance musste ich doch einfach nutzen! Picasso lachte kurz auf und seine warmen dunklen Augen blitzten in dem sonnengebräunten Gesicht.
„Bilder? Die sind nichts für den echten Schöpfer. Das sind nur Fingerfertigkeiten, allerdings gut zu verkaufen. Ein paar Pinselstriche, dicke schwarze Tinte. Unser täglich Brot gib uns heute.“ Er packte mich noch fester an. Er spürte die Schwäche, die durch meinen Körper glitt. „Der echte Schöpfer formt mit seinen Händen, packt den Lehm, zwingt ihm seinen Willen auf, haucht ihm Leben und Schicksal ein. Das Vorbild für unsere Arbeit ist Galatea – nicht die Propoetide von Salvadore, sondern die von Pygmalion. Wir sind keine Alltagsmenschen, keine Masse. Wir ringen mit der Welt, aber sie zwingt uns nicht in den Staub. Wir packen sie, heben sie in die Luft, wirbeln sie herum und drücken ihr unseren Stempel auf – für alle Zeiten. Wer danach die Welt sieht, wird auch uns sehen! Das ist der Mythos des Schaffenden.“ Jetzt war alles klar: Dieser Picasso, der ein Loblied auf den Bildhauer anstimmte, stammte aus meiner Fantasie, auch wenn er erstaunlicherweise ein paar Wörter verwendete, deren Bedeutung ich nicht kannte.
Mit der Rede, die nicht die seine war, sondern ich ihm offensichtlich in den Mund legte, schleppte er mich die steinernen Stufen der Vorburg hinauf über die Zugbrücke und das verwitterte, weit offenstehende Tor in den schmalen Hof der Feste, der von einem weiteren, diesmal allerdings verschlossenen Eingang beherrscht wurde. Gleichzeitig wurde es düsterer und erstaunlich kühl. Das lag nicht nur den hohen Mauern, die den Hof eingrenzten, sondern auch daran, dass sich die schwarzen, an ihren Rändern wie verwesend grünen Gewitterwolken jetzt über die am Firmament festgenagelte Sonne legten und mit einem Schlag aus dem ewigen Nachmittag eine frühe Dämmerung machten. Es war auch ein Donnergrollen zu hören, ein mächtiger, brummender Maschinenton, laut vibrierend und in den hohen Mauern der Burg nachklingend.
Picasso trug mich zu dem kleinen Ziehbrunnen in der Mitte des leicht abschüssigen, mit bauchigen Pflastersteinen gedeckten Areals. Er lehnte mich vorsichtig gegen die Ummauerung des Brunnens. Dabei sah er sich neugierig um, wirkte nicht weiter erschöpft. Jetzt erhellte für einen Augenblick der erste Blitz die Szene und warf ein groteskes Schlaglicht in den Hof. Der Donner ließ nicht lange auf sich warten, aber noch regnete es nicht. Pablo trat zum verschlossenen Tor und rüttelte vergeblich an der Löwenkopfklinke. Dann schlug er mit der flachen Hand gegen das Holz und versuchte, durch die Ritzen zwischen den Brettern ins Innere zu spähen.
„Was machen wir jetzt?“ wand er sich an mich. Ich konnte nur resignierend den Kopf schütteln. Seit Pablos unverhofftem Auftauchen hatte ich mich absolut auf ihn verlassen und die Verantwortung von mir abgewälzt. Glaube mir, ich dachte in diesem Moment, mich nie mehr auch nur aufrichten zu können. Die Lähmung, die mich heute an den Rollstuhl fesselt, begann in diesem Innenhof der Burg. Ich war dabei, mich in einen resignierten Krüppel zu verwandeln. Auch wenn Picasso nur eine Projektion meiner Vorstellungskraft war, strahlte er doch so viel Stärke und Selbstvertrauen aus; Eigenschaften, die mir gerade vollkommen abgingen. Und deshalb sollte meine noch nicht einmal richtig begonnene Rettungsaktion bereits am ersten Hindernis, einer verschlossenen Tür, enden? Nein, ein Scheitern war nicht akzeptabel, nicht für mich und nicht für diese Welt, mein Wunderland Oz, in das ich mich hinein gewünscht hatte.
Ich versuchte mich verzweifelt aufzurichten, mich an der Mauer in meinem Rücken nach oben zu drücken. Gleichzeitig schnitt wieder dieser Schmerz in meine Lenden, gegen dessen Gewalt ich völlig wehrlos war. Ich sackte erneut in mich zusammen, fiel zur Seite auf den Boden. Welche Ironie: Jetzt war ich in der gleichen Lage wie der alte Mann vorhin, dabei war ich doch als Held und Retter aufgebrochen!
Blitz und Donner schlugen gemeinsam ein, das Gewitter stand nun direkt über der Festung. Pablo trat besorgt an meine Seite, kniete sich neben mich. Noch ein Blitz, jetzt spürte ich erste, eisig kalte Tropfen auf meiner Haut. Im nächsten Augenblick brach eine wahre Sintflut los. So dicht fiel der Regen, dass ich von einem Moment auf den nächsten das Gefühl hatte, ich würde ertrinken. Pablo versuchte, mich wieder aufzurichten, aber ich lag wie ein nasser und schwerer Sack Kartoffeln in dem kleinen See aus Regenwasser, der sich am Brunnen sammelte.
Jetzt war es so weit: Meine Rückkehr stand bevor, ich spürte das Zerren. Ich hatte plötzlich keine Schmerzen mehr, aber ich konnte meine Füße nicht mehr bewegen, spürte sie nicht einmal.. Ich hatte auch kein Gefühl in den Beinen und musste mich mit einem Blick vergewissern, ob sie noch da waren. Bleich, wie ein totes faules Aas lagen sie im Wasser, ragten aus der kurzen Jeanshose wie etwas Fremdes, das noch nie zu mir gehört hatte. Ich wusste, ich sah das Ergebnis meines Sturzes die Treppe hinab, ich war an mein Ende gekommen, die Zeit war abgelaufen. Die Welt des Alten löste sich auf, ich war dabei, in den Winter zurückzukehren.
Das konnte nicht sein! Ich kniff die Augen zusammen, konzentrierte mich.