Implosion – Kurzgeschichte

Die rechte Hand des alten Mannes rutscht vorsichtig und langsam den abgegriffenen Handlauf der Treppe empor. Sein massiger Körper schwimmt ihr hinterher, keucht sich geduldig eine Stufe nach der anderen in die Höhe. Bald schon, er hat noch nicht einmal ein Viertel seines Aufstiegs hinter sich, muss er an einem Absatz pausieren und hektisch um Atem ringen. Er lässt eine Gruppe Jugendlicher an sich vorbei, die wie er den Turm hinaufsteigt. Er nickt ihnen freundlich zu.

„Wie meine Enkel“, denkt er, „laut, roh und rücksichtslos jung. Ein schönes Alter.“

Sein Blick gleitet über den Rauhputz der Wand, auf dem eine Vielzahl von Botschaften geschmiert stehen. Manche stammen aus dem vorigen Jahrhundert. Hätte der Alte jetzt einen Stift bei sich, er hätte sich ebenfalls verewigt.

„10.04. – Karl“, hätte er geschrieben.

Endlich beruhigt sich der Puls des fetten alten Mannes wieder und er macht sich erneut an seinen Aufstieg die enge Wendeltreppe empor. Karl braucht noch fünf Rastpausen und sie werden jedesmal länger, bis er zu Atem kommt.

Endlich erreicht er die Tür, die ihn auf die Turmspitze führt. Gerade streckt er die Hand aus, um sie zu öffen, da wird sie vor ihm aufgerissen. Ein Mann in mittlerem Alter steht für einen Augenblick verlegen vor ihm. Seine dunklen Haare sind vom Wind zerzaust. Dann drückt er sich grob an Karl vorbei, ohne ein Wort der Entschuldigung zu murmeln.

Der Alte tritt hinaus und sieht sich auf der kleinen Plattform um. Karl ist allein; die Jugendlichen sind ihm schon bei seiner dritten Rast von oben entgegengekommen, haben sich lachend an ihm vorbeigedrängt.

Schleppend tritt Karl an den Rand, presst seinen Bauch gegen die niedrige Ummauerung und sieht nach unten. Der Anblick gefällt ihm: Die Stadt liegt so winzig da unten. Wie jedermann vergleicht er sie sofort mit einem geschäftigen Ameisenhaufen. Er kann sich nicht vorstellen, dass dort unten so große Menschen wie er leben. Sie müssten in den engen Gassen und Plätzen ersticken.

Weit hinten unter dem waldigen Horizont, dort, am westlichen Randbezirk sollte er eigentlich sein Häuschen finden, aber Karl vermag es zuerst nicht zu entdecken. Dabei hätte er es sehen müssen, denn wenn er aus seinem Küchenfenster blickt, kann er in der Ferne den alten Stadtturm erkennen, auf dem er jetzt steht. Endlich sieht er seinen schmalen Garten. Und dahinter, dieser kleine weiße Karton, das muss dann doch wohl sein Häuschen sein.

„Ich hätte ein Fernglas mitnehmen sollen“, denkt Karl. Dann hätte er vielleicht sogar seine Frau erkennen können, die in der Küche das Abendessen vorbereitet. Es gibt gefüllte Tomaten. Die isst er gern.

Und dort, sehr nah, aber leider durch die Kamine der Maschinenfabrik verdeckt, wohnt Karls Tochter mit ihrem Mann und den Enkeln. Morgen, wie an jedem Samstag, ist er dort eingeladen.

Es ist recht kühl hier oben auf der Turmspitze. Vom Horizont wischen giftige Wolken heran. Karl runzelt die Stirn. Nass werden will er nicht. Gleichzeitig wird ihm klar, wie absurd dieser Gedanke ist. Er schüttelt bedächtig den Kopf über seiner Dummheit.

Mühsam zieht er sich hoch auf die Begrenzungsmauer. Es gelingt ihm nur, weil hier ein paar der Ziegelsteine abgebröckelt sind und er mit seinen Füßen halt findet. An welchen Kleinigkeiten manchmal die Dinge hängen, denkt er. Wären die kaputten Stellen inzwischen mit Zement ausgebessert, hätte er jetzt unverrichteter Dinge umkehren müssen.

karlstraum3Karl lässt die Beine über dem Abgrund baumeln. Er ist schwindelfrei und genießt den nun unverstellten Blick hinab in die Altstadt. Hier saß er schon als Kind gerne, bis ihn irgendein Erwachsener erschrocken von der Mauer zerrte; damals kurz vor dem Krieg, als der Turm noch Teil einer schönen Altstadt und nicht trotziges Überbleibsel einer zerstörerischen Bombennacht war. Später traute er sich das nicht mehr, war auch nicht mehr auf den Turm gestiegen. Er war da, immer in seinem Blick, das genügte Karl. Heute aber ist der Tag, endlich wieder empor zu steigen, denn wenn sich das Alter noch stärker bei ihm bemerkbar macht, wird er überhaupt nicht mehr hoch können.

Und jetzt sitzt Karl auf der Mauer und spuckt wie früher hinab.

„Vielleicht treffe ich jemanden“, denkt er.

„Er wird aufsehen. Alle schauen nach oben, wenn sie ein Tropfen trifft, auch bei Sonnenschein oder wenn sie sich in einem Zimmer befinden. Er wird aufsehen und erschrecken. Vielleicht ruft er die Polizei oder die Feuerwehr oder den Krankenwagen oder alle zusammen.“

Der Alte sieht auf die Uhr. Nach dem Abendessen ist er mit seinem Kameraden Mertl verabredet, im Wiesenwirt, dort neben der Kirche, wie an jedem Freitag. Sie werden ein paar Biere trinken, über Politik und den Krieg reden. Vielleicht kommt auch Klose, wenn ihn seine Frau gehen lässt.

„Meine Freunde“, sagt der alte Mann laut, „meine Frau. Meine Tochter, meine Enkel. Ich bin geborgen, ich bin gesund und glücklich. Alles ist gut.“

Dann stößt sich Karl lachend mit beiden Beinen von dem Mäuerchen ab. Er lacht, weil er einen Euro Turmbesteigungsgebühr bezahlt hat.

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