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Brautschau (I)

(Wenn ein Leser an dieser Stelle mehr von Martin Wolfenklaus Schicksal erfahren möchte, muss ich ihn enttäuschen und zu meinem Bedauern auf die Traueranzeige von gestern verweisen.)


1. Kapitel

Aufbruch

Endlich erreichte Half Hannar Kern die Hügelkuppe. Er stand vor einem ausgedehnten und dichten Mischwald. Sein Weg wand sich in einem sanften Bogen hinab; hinein in das zwielichtige Dunkel der Bäume und verlor sich dort schnell unter einer dicken Schicht aus feuchtem Herbstlaub. Half atmete tief ein. Er machte das nicht, weil ihn der teilweise steile Anstieg auf diese Kuppe erschöpfte. Nein, es war ein Seufzer der Erleichterung, ein Gefühl voller erwartungsvoller Spannung, das ihm den Atem nahm.

Langsam wandte er sich herum und sah ein letztes Mal zurück in das Tal, an dessen fast kreisrundem Kraterrand er stand. Der junge Mann nahm seinen schweren Rucksack von den Schultern und stellte ihn neben sich in das hohe, verfilzte Gras. Obwohl er fest entschlossen war, nicht traurig zu werden, füllten sich seine Augen sofort mit Tränen. Er sah sich verstohlen um, als müsse er sich vor jemandem in seiner Nähe schämen. Dann wischte er sich schnell mit dem rauen Ärmel seiner neuen Jacke über das Gesicht.

Dort unten lag im frühen Morgenlicht Bergruen, das Bauerndorf, in dem er seine Jugend verbracht hatte. Er war schon oft zu diesem Aussichtspunkt heraufgestiegen, aber diesmal würde er für lange Zeit Abschied von Zuhause nehmen müssen und er wollte den friedlichen Blick hinab in seiner Erinnerung bewahren.

Die wenigen, vertrauten Häuser und Höfe schmiegten sich eng an den schmalen Bach, der ein Stück weiter westlich von seinem augenblicklichen Standort als breiter Wasserfall zu Tale stürzte und sich hinter dem Dorf, kurz nach der einzigen Brücke und der Mühle, in den See ergoss. Der See, der auch in den heißesten Sommertagen angenehm kühl war, besaß einen unterirdischen Abfluss zum nahen Strom Hornung hin und trat nur zur Zeit der Schneeschmelze über die Ufer.

Jenseits des Baches, hinter den Ziegen- und Schafweiden, schlossen sich die Äcker von Bergruen an. Sie reichten bis zum jenseitigen Rand des Kessels. Auch die Felder von Halfs Familie waren dabei, er glaubte sogar, seinen Vater erkennen zu können, der, hinter den ins Joch gespannten Ochsen gehend, die Pflugschar in die dampfende Märzerde drückte. Doch das konnte eigentlich nur eine Täuschung sein, ein Reflex auf Halfs Pupille. Er war viel zu weit entfernt, um einzelne Menschen dort unten unterscheiden zu können.

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Dieses Jahr, dessen Frühling eben mit einer Reihe angenehm warmer und trockener Tage begonnen hatte, obwohl die Nächte noch immer frostig waren, würde nicht einfach für die Familie von Half werden: Sein Arm würde bei der Arbeit fehlen. Dennoch war im Familienrat beschlossen worden, ihn hinaus in die Welt zu schicken, denn Half Hannar Kern war in dem Alter, in dem ein junger Mann unruhig wird und in der Nacht seufzt, häufig badet und jedem Rock, dem er begegnet, hinterher sieht. Er war heiratsfähig geworden. Im Dorf gab es jedoch nur zwei Mädchen, die frei waren. Die eine, die Tochter des Schmieds, war Half zu hässlich und die andere, die Rote Era, nun, die hätte ihm durchaus gefallen, aber sie fühlte sich bedauerlicherweise nur dem eigenen Geschlecht hingezogen und lebte etwas außerhalb der Dorfgemeinschaft bei der Witwe Altus, der Kräuterfrau. Der eine Versuch von Half, Era eines Abends zu einem unverbindlichen Kuss zu überreden, hatte ihm nur ein paar tiefe Kratzer im Gesicht eingebracht und trotz der Altus’ schen Heilsalbe war ihm eine Narbe geblieben.

Ihm blieb also nichts anderes übrig, als sich in einem anderen Dorf ein Mädchen zu suchen. Deshalb schickte ihn seine Familie jetzt zu Beginn des neuen Jahres fort. Aber um ehrlich zu sein, sie nahm auch erleichtert von ihm Abschied: Er würde zwar allen fehlen, aber der unbeweibte junge Mann war im ungewöhnlich schneereichen Winter launisch wie ein alter Straßenkater und schwer zu ertragen gewesen.

Diese Brautwanderung, die Half nun bevorstand, gab es nicht allzu oft, war jedoch kein außergewöhnliches Ereignis. Ein-, zweimal im Jahr kamen ein junger Mann oder eine junge Frau auf Brautsuche nach Bergruen. Sie waren immer gerngesehene Gäste, da sie viel zu erzählen wussten. Sie kannten spannende Geschichten von jenseits des Kraters, denen vor allem die Kinder gerne lauschten. Auch Half war einmal so ein Kind gewesen und hatte sich gewünscht, einmal selbst auf Brautschau gehen zu können und von den Abenteuern geträumt, die er bestehen würde, bis er die schönste aller Frauen gewonnen hätte. Und nun war er der Erste aus seinem Dorf seit mindestens einem Dutzend Jahren, der auf diese hoffnungsvolle Wanderung geschickt wurde, stand am Waldrand und wäre am liebsten den steilen Hang zurück gerannt, zurück ins schützende Heim und in die Arme seiner Mutter.

Mühsam riss er sich von den heimatlichen Ausblicken los und schulterte erneut seinen Rucksack, aus dem er vorher eine Fluite befreite, die er griffbereit in seinen geflochtenen Gürtel schob. Das ungewohnte Gewicht drückte ihn. Ohne noch einmal zurück zu sehen, trat er in den Wald, der ihn kühl und schweigend empfing. Um sich aufzumuntern, nahm Half die Fluite zum Mund und blies ein altes Lied, das in grauen Vorzeiten von dem Sänger Lessep komponiert worden war. Den Text kannte niemand mehr, wenn es überhaupt einmal einen besaß. Lesseps Lied hieß „Treppe zum Himmel“ und wurde gerne auf Hochzeiten gespielt.

Half achtete kaum auf seinen Weg, der ihn zuerst mehrere Meilen durch den Wald, dann an Feldern, Wiesen und Einödhöfen vorbeiführte. Er ging ihn immer, wenn er seinen Vater in den etwa zwanzig Meilen entfernten Flecken Larakosa, dem Hauptort und Gerichtsstand der Gegend, zum Markt begleitete. Dieser Markt fand viermal im Jahr statt und die Bauern der Umgebung boten dort ihre Waren feil. Der Markttag war immer mit einem Volksfest verbunden, es war eine der wenigen Gelegenheiten für die Dörfler, sich zu vergnügen.

Larakosa war zwar ein gutes Stück größer als Bergruen und wurde halb spöttisch „Stadt“ genannt, war aber Halfs Dorf zum Verwechseln ähnlich. Auch Larakosa lag in einem der vielen Kraterkessel und hatte zu wenige hübsche Mädchen. Die „Stadt“ würde nur die erste Station seiner Reise sein, wo er im Stall von Gega, einem Verwandten seines Vaters, übernachten konnte. Wohin Half sich anschließend wenden würde, wusste er nicht so genau. Er wollte sich von seinem Instinkt leiten lassen.

Half war ein schöner junger Mann; das wusste er, denn es wurde ihm oft gesagt. Er war nicht sehr groß und obwohl er kräftig war, war sein Körper nicht bullig, sondern geschmeidig und biegsam. Wie allen Männern wuchsen ihm keine Haare auf dem Kopf, doch sein Schädel war wohlgeformt, die Stirn hoch. Nur die breiten Wangenknochen und die ebenmäßig dunkle Färbung seiner Haut verrieten den Bauernsohn. Stolz war er auf seinen dichten schwarzen Schurrbart, den er mithilfe einer kleinen Dose Schuhwichse dunkler machte als er war. Half war sicher: Er würde keine Schwierigkeiten haben, eine Braut zu finden.

Aber der junge Mann war fest entschlossen, nicht einfach die Erste zu nehmen, die ihm über seinen Weg lief. Er wollte wählerisch sein und nur die Beste war gut genug für ihn. Dabei sollte ihm keine Rolle spielen, aus welcher Familie sie kam, ob die Eltern Handwerker, Händler oder Bettler waren. Er hatte jedoch genaue Vorstellungen von ihrem Aussehen und ihrem Charakter. Er legte Wert auf ein liebenswürdiges Wesen und einen wohlgeformten, festen Leib. Vor allem musste seine Auserwählte blond sein. In der Weltgegend, in der er lebte, waren blonde Frauen eine spektakuläre Seltenheit. Sie waren entweder von Brautwanderern von weit entfernten Orten mitgebracht worden oder die Kinder derselben. In Bergruen gab es keine blonde Frau.

Doch er, Half Hannar Kern, Sohn des Hannar Hegel Kern und seiner Frau Soffia, würde eine mitbringen. Da war er sich sicher. Er verdiente sie.

(Fortsetzung folgt…)

Diedorf, Deutschland

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