Der Dienstagsroman (V)

(Was bisher geschah: Der junge Missionar Martin Wolfenklau liegt in wilden Fieberträumen in einem schäbigen Zimmer in Singapur und kämpft mit den Geistern seiner Vergangenheit. Die ehemalige Prostituierte Parbati, mit der er gemeinsam vor der grausamen Gräfin aus dem Rimbu geflohen ist, pflegt ihn aufopfernd. Er versucht, die Frau, die er liebt, vor der mörderischen Gräfin zu warnen, als ihn ein erneuter Fieberanfall zurückführt zu seiner Vergangenheit in Niederbayern, in der alles begann. Der geheimnisvolle alter Xaver kommt auf den Bauernhof, den Martin allein mit seiner Mutter bewohnt. Der ‚Einöder‘ braucht Hilfe:)

„Was ist, Bub, träumst?“

Martin nahm dem Waldbauern den „Bub“ nicht übel, obwohl er erst Ende Julei die Abiturprüfung mit Auszeichnung abgelegt hatte und bei Tag und Nacht überlegte, welches Studium er denn ergreifen sollte. Es zog ihn zum Weinbau in die Wachau oder gleich ins ferne Land, ins Fränkische. Dabei wollte er in der niederbayerischen Heimat in der Nähe seiner Mutter bleiben und hier wuchs nur der Hopfen.

„Nein, Xaver, ich träume keineswegs.“ Er warf einen Blick, der seine Worte Lügen strafte, auf den bärtigen Einsiedler. Der junge Mann hatte sich schon oft gewundert, warum immer ein Dutzend Bienen um dessen silbergraues Haar summten und sich sogar ruhig darauf niederließen, ohne dass es den Alten im Geringsten zu stören schien. So war es auch heute. Irgendwann würde der Xaver noch mit einem bebrüteten Vogelnest auf dem Kopf im Dorf auftauchen. Der Einödler suchte die kleine Ansiedlung allerdings nur in den dringendsten Fällen auf, wenn er mal wieder Einweckgummis für die Marmeladengläser brauchte, Bleistifte nebst selbstklebende Zettel oder neue Kupferrohre für seine Brennblase, mit deren Hilfe er in der Abgeschiedenheit seiner Hütte seinen hochprozentigen Bärwurz fertigte.

Bärwurz, meum athamaticum, das ist eine wundersame Wurzel, nächtlich bei Neumond durch den Xaver vom Grabe einer unberührten Jungfrau gepflückt – schwierig, immer schwieriger geworden, solch ein Grab oder auch nur eine Jungfrau in Niederbayern zu finden –, versehen mit einem unnachahmlichen Aasgeschmack, Zeichen seiner jeden anderen Trunk übertreffenden Heilkraft. Xavers Bärwurz war nicht zu vergleichen mit dem Industrieprodukt gleichen Namens, mit dem gewissenlose Destillen die Bayerische Heimat überschwemmen und für Irritationen unter den Kurgästen sorgen.

Der Einödler hätte mit seinem Zaubertrank reich werden können, wenn ihm etwas am Gelde gelegen wäre. Von weit her, selbst aus dem Welschland und dem Böhmischen, kamen Sieche zu ihm hinauf gepilgert, um eine Flasche seines legendären Bärwurzes zu erwerben. Doch nur in besonderen Fällen gab er aus: Meist schickte er die Bittenden mit leeren Händen heim oder verwies sie an Magda, Martins Mutter, die gegen eine kleine Spende mit ihren Kräutern und ihren Händen so manches Leid lindern, ja heilen konnte.

Es stimmte schon: Der Xaver fand noch Jungfrauen und konnte es darüber hinaus mit allen Tieren – wenn man mal von der alten Annerl absah: Die Katze mied ihn wie der Teufel das Weihwasser.

„Schau, Xaver, du weißt eh, die Mutter hat mir verboten, sie zu stören, während sie im Badhaus weilt. Und das gilt für jeden. Wirst dich schon gedulden müssen“, erläuterte der Sohn geduldig.

„Martel, glaub mir, ich weiß genau, was die Magda im Badhaus treibt. Aber a kranke Kuh ist wichtiger als ihre Wasch, und sei´s selbst von der schlimmsten Sünd!“

Der junge Mann blickte verwirrt zur verriegelten Tür des alten, von Fliesenleger und Spengler des Dorfes zu einem einfachen Badehaus umgestalteten Saustalls. Wusste der Xaver wirklich, was seine Mutter jeden Morgen nach dem kargen Morgenbrot tat, wenn sie sich in dem Umbau für eine Stunde einschloss? Das konnte nicht sein. Martin selbst besaß nicht die geringste Ahnung, wagte auch nicht, sich gegen das Verbot zu versündigen. Niemals hätte versucht, einen Blick durch die zersplitterten und erblindeten Gitterfenster zu werfen, zwischen denen zu dieser Jahreszeit, im noch warmen Frühherbst, viele fette Spinnen ihre Fallen woben. Selbst wenn er auf Befehl der Mutter eine der Kreuzspinnen fing oder vorsichtig  eines ihrer zarten, klebrigen Netze löste, und die Arachnide oder ihre Spinnseide vorsichtig in der Höhlung seiner Hände barg, um sie an den Kräutertisch im Mostkeller zu bringen, machte er keine neugierigen Augen. Und er war schließlich hier zuhause. Der Saustall war Mutters Refugium; Martin respektierte das.

Was er jedoch nicht ahnen konnte, war, dass der alte Mann selbst zu dem Umbau geraten hatte: „Wasser wäscht mit den Jahren jeden Schmutz ab, Magda, auch den einer mit Unrat beworfenen Seele.“

„Nun lauf schon, Martel, dem Lieserl liegt´s Kalb verkehrt herum, die stirbt, wenn´s nicht bald die Händ von deiner Mutter zu spüren kriegt. Gehst jetzt endlich!“, drängte der Alte.

Sinnend sah er dem „Bub“ hinterher, der gehorsam folgte, wog dabei bedächtig seinen mächtigen Bart, aus dem verwundert ein paar fette Hummeln fielen. Auf einmal stand Xaver starr, nur sein Haupt wandte sich zu der Katze Annerl, die ihn noch immer wütend aus ihrem Versteck unter der wilden Rose beobachtete.  Seine buschigen Augenbrauen senkten sich und er kreuzte seinen eindringlichen Blick mit dem des Tieres.

„Noch hast drei Leben, Annerl. Verspiel sie nicht“, murmelte er nur für die Katze und ihn selbst vernehmbar. Dann seufzte der Xaver, obwohl er es zufrieden war. Das Spiel war eröffnet, er hatte den ersten Zug getan.

(…Fortsetzung folgt)

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