Der Dienstagsroman (II)

(Was bisher geschah: Der junge Missionar Martin Wolfenklau liegt in wilden Fieberträumen in einem schäbigen Zimmer in Singapur und kämpft mit den Geistern seiner Vergangenheit. Aber er ist nicht allein…)

Das Grauen gab Martin Kraft. Mit ungeheurer Anstrengung gelang es ihm, seinen Oberkörper so weit zu heben, dass er den Kopf wenden konnte, weg von der Hammelkeule und dem grellen Licht der Tempelkuppel, die wie ein Menetekel waren. Seine matte Blicke suchten die liebliche Gestalt Parbatis. Sie allein konnte ihm nun helfen. Der Kranke war sicher: Sie war da, sie würde ihn nicht verlassen! Er hatte sich nicht getäuscht, zusammengekauert ruhte ihre schmale Gestalt am Kopfende seines Lagers in einem abgewetzten Rattansessel, das Kinn erschöpft auf die Brust gesunken. In ihren Händen hielt sie kraftlos einen Fächer, mit dem sie wohl für eine Weile die Fliegen verscheucht hatte. Vergeblich. Wäre Martin nur ein wenig kräftiger gewesen, hätte er mit seiner Hand ihr Gesicht berühren können. Parbati schlief trotz des Lärms, der vom geschäftigen „Little India“ heraufdrang – Autohupen, Knattern der Motorradrikschas, Hundegekläff, feilschende, keifende, zeternde und flehende asiatische Stimmen, kreischende Musik, die klang, als würde jemand eine Säge über die Saiten seiner Geige ziehen.

Parbati…“ Martin flüsterte. Doch die geschwächte Stimme vermochte nicht, durch ihre Erschöpfung zu dringen. Die Anstrengungen der Flucht vor der schrecklichen Gräfin – fort aus dem sündigen Landsitz hoch im Dschungel Malaysias mit seinen ständigen Verführungen zu tabuloser Fleischeslust und ungehemmtem Drogenkonsum – hatten augenscheinlich auch die Körperkräfte der Hure überstiegen. Martin konnte jedoch keine Rücksicht auf den Schlaf des Mädchens nehmen, zuhause, in der fernen Heimat, brauchte eine Engelsgleiche seine dringende Warnung.

Parbati“, wiederholte er drängender. Der Mund war trocken, die Zunge klebte aufgeschwollen am Gaumen, er konnte nicht lauter rufen. Er müsste etwas trinken, doch er konnte das Glas mit der trüben Flüssigkeit nicht erreichen, das neben der Inderin wie die Trauben des Tantalos auf einem Bambusschemel stand. Martin versuchte zu schlucken, sich zu räuspern, umsonst, die Zunge war im Wege. Seine Finger tasteten verzweifelt über die schweißfeuchte Brust, nahmen, was die Fliegen nahmen, und netzten den Mund.

Parbati!“

Die schöne junge Frau schreckte hoch. Sofort hob sie ihren Arm, nahm ihr Wedeln mit dem Fächer wieder auf. Ihre Mandelaugen huschten voller Liebe über Martins abgemergelten, nackten Körper, den nur ein dünnes Laken bedeckte. Erst in diesem Augenblick bemerkte sie, dass der Kranke erwacht war. Mit Schamröte auf den Wangen, weil sie, die ewig wachen wollte, eingeschlafen war, sprang Parbati auf, eine schlanke Hand strich eilig den lila Seidensari glatt. Dann beugte sie sich zu ihm, fühlte gewissenhaft die Stirn des Geliebten. Dieser konnte in ihrem Gesicht die Freude über die scheinbare Besserung seines Zustandes lesen, die sie wohl ihrer Pflege anrechnete, aber in Wahrheit doch nur eine boshafte und kurze Spielerei des Fiebers war. Martin spürte schon wieder krallende Finger, die ihn zurück in das brennende Land Kalis zerren wollten.

Parbati trocknete mit weichem Tuch sein Gesicht, gab ihm ein wenig Papayasaft zu trinken. Anschließend beugte sie sich zu ihm herab und streichelte beruhigend seine zuckenden Schläfen. Der unauffällige Hibiskusgeruch und ihre sanften Berührungen erinnerten Martin einen Moment lang an die tanzenden Schmetterlinge zwischen den blühenden Pflanzen in den Bergen des Rimbu.

(…Fortsetzung folgt!)

Diese Folge des Dienstagsromans ist meinem lieben Co-Autor Hans-Dieter Heun gewidmet, der heute auf Tabor seinen Geburtstag feiert. Alles Gute, HD. Ich hoffe auf viele tolle Ideen und weitere Bücher von dir!

4 thoughts on “Der Dienstagsroman (II)”

  1. Falls ein Künstler diesen Blog liest: Ich könnte ein paar nette Illustrationen gebrauchen.
    Als Belohnung könnte ich außer meiner ewigen Dankbarkeit noch ein Flussgeschichtenbuch (siehe Empfehlung) ausloben.

  2. Du weißt ja, mein Klammer, eine Geschichte ist eine Geschichte, ist eine Geschichte, ist eine ewige Geschichte … die schichtet.

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