Minnedichtung – Ein Essay (I)

Ir sult sprechen willekommen:
der iu maere bringet, daz bin ich.
allez daz ir habt vernomen,
daz ist gar ein wint: nû fraget mich.
Walther von der Vogelweide

Hinführung

Wahrscheinlich übt keine weitere Geschichtsepoche auf uns Heutige eine solch breitgefächerte und nachhaltige Faszination aus wie gerade die Kultur der Menschen im europäischen Mittelalter (Im Nachfolgenden zu meiner Erleichterung als MA bezeichnet).

Ritter1In den letzten Jahren hat das MA, so paradox es auch klingen mag, wieder einmal eine bemerkenswerte Renaissance erlebt: Es gibt kaum eine Gemeinde in Deutschland mit einem einigermaßen intakten Altstadtkern, die kein mittelalterliches Stadtfest veranstaltet, und in mehr oder meist weniger authentischer Umgebung finden überall Ritterturniere statt. Mittelalterliche Mystiker wie die meiner Auffassung nach überschätzte Hildegard von Bingen oder Meister Eckehart werden von den Esoterikern wiederentdeckt und der Gregorianische Choral und die Musik der Troubadoure beeinflußt nachhaltig die New-Age-, sowie die Pop- und Rockmusik. Die Zahl der Neuerscheinungen in den Medien, die sich in irgendeiner Form mit dem MA auseinandersetzen, ist unüberschaubar. Eine besondere Variante auf dem Buch-, Film- und, in neuerer Zeit, auch auf dem Computerspielemarkt ist dabei die Sparte der sogenannten Fantasy, die nur selten in stimmiger Form alte mittelalterliche Sagenkreise wiederverwertet und in aller Regel in einer nicht näher topografierten, monarchischen Agrarkultur mittelalterlichen Zuschnitts angesiedelt ist. [1]

Es drängt sich hier unwillkürlich die Frage auf, welche Ursachen dieses Phänomen hat. Für Historiker läßt sie sich leicht beantworten: Sie lieben das MA wegen seiner Übersichtlichkeit. Obwohl man nicht vergessen darf, dass auch das MA eine Entwicklungsgeschichte hat und einen Wandel, sogar Revolutionen kennt, ist es doch ist die einzige Epoche in der Geschichte, die in allen Betrachtungsebenen eine in sich abgeschlossene Struktur und einen relativ klar definierbaren Beginn und auch ein ebensolches Ende bietet; es ist, wie es Ferdinand Seibt [2] formuliert, eine endliche Geschichte; es ist das Jahrtausend zwischen dem noch heute nicht völlig erklärbaren Zusammenbruch der Kultur des alten Roms und der Entfaltung des neuzeitlichen Europas.

Warum aber übt das MA auch auf den Nichthistoriker eine gleichbleibende Faszination aus? Obwohl es nicht nur eine Erklärungsmöglichkeit gibt, präferiere ich die Auffassung, dass diese innige Liebe zum MA in einer allgemeinen Flucht der Menschen vor der Überkompliziertheit der modernen Gesellschaft besteht. In der Vorstellung vieler ist das MA, und hier in erster Linie ihre höfische und ritterliche Welt ein Utopia, in dem das Leben einfach und klar strukturiert ist, es ist ein anderes, farbiges Dasein. Der Einzelne hat seinen festen Ort in der Ständegesellschaft und die Begriffe Gut und Böse sind deutlich von einander abgegrenzt und eindeutig besetzt. Dazu kommen die Unbekümmertheit und die Rustikalität der mittelalterlichen Sitten, die wohl mancher gerne zurückgewinnen würde.

Gleichzeitig und das ist eine merkwürdige Kehrseite, haben die meisten in ihrem Hinterkopf ein abweisendes und bluttriefendes Bild vom MA als einem dunklen, intoleranten und grausamen Zeitalter voller dumpfer Vorurteile und Dummheit, einer rückständigen Epoche, die im hellen Lichte des Altertums einen um so sinistren Schatten auf Europa wirft; einer Zeit, in der die Menschen in uns heute unvorstellbaren hygienischen Zuständen am Rande des Existenzminimums lebten, ständig von Inquisition, Pest und kriegerischen Auseinandersetzungen bedroht; es ist ein  Bild des MAs als einer Art von viehischer, aber in ihrer Entsetzlichkeit auch faszinierender Durststrecke in der Menschheitsgeschichte.

Aus diesen beiden, in ihrer extremen Vereinfachung jedoch nicht einmal völlig falschen, aber diametralen Positionen heraus wird auch verständlich, wie fremd uns der Mensch dieser fernen Epoche ist, wie weit wir uns von seinem Fühlen, Denken und Wollen entfernt haben, wie schwer es wird, aus der Widersprüchlichkeit unserer Auffassungen Verständnis zu gewinnen. Auch jemand, der sich ernsthaft und intensiv mit dem MA beschäftigt hat, wird immer wieder verblüfft vor einem Lebensumstand oder einer Äußerung dieser so fernen Menschen zurückweichen und sich vergebens um Verständnis mühen. Als Paradigma für diese Fremdheit mag uns hier ein bekanntes Gedicht von Walther von der Vogelweide (um 1170 – 1230) dienen, dessen fulminanter Beginn seltsam vertraut und nah scheint.[3]

Ich saß auf einem Steine,
und verschränkte die Beine:
darauf setzte ich den Ellenbogen.
In meine Hand hatte ich geborgen
das Kinn und eine Wange.
Angestrengt überdachte ich
wie man leben soll in dieser Welt.
Ich wusste mir keinen Rat…

Diese Suche nach dem Sinn ist sicherlich jedem bekannt und wahrscheinlich hat er dabei zum Nachgrübeln die gleiche Haltung eingenommen. Vierhundert Jahre später wird dieser Sachverhalt von Descartes folgendermaßen ausgedrückt: Unsere Vorurteile von der Erkenntnis des Wahren können wir, so scheint es, nur los werden, wenn wir einmal im Leben geflissentlich an allem zweifeln, worin sich auch nur der kleinste Verdacht einer Unsicherheit findet.[4] Dieses Zweifeln ist der Grundansatz der neuzeitlichen Philosophie. Man sieht, wir befinden uns auf sicherem Boden; der von Selbstzweifeln und Sinnleere geplagte Mensch an der Schwelle zum zweiten christlichen Jahrtausend fühlt plötzlich ein Seelenband, eine bequem zu beschreitende Brücke durch die Jahrhunderte hin zu diesem so fernen Minnesänger und Ritter. Doch dann liest er weiter und seine Interpretation bricht zusammen:

Ich wußt mir keinen Rat,
wie man drei Dinge erwürbe
ohne nicht eines zu verlieren:
Zwei sind Ehre und Reichtum,
einander oft ausschließend:
das Dritte aber ist die Gnade Gottes,
die andern überstrahlend.

Ehre, Reichtum, Gnade Gottes? Ist das für Walther der Sinn des Lebens? Und plötzlich entfernt er sich wieder in der Zeit, sind sein Sinnen und Trachten fremd, sogar abweisend, erzeugt sein Denken im besten Fall Achselzucken. Aber es kommt ein paar Strophen später noch schlimmer. Walther zieht hier einen Vergleich zwischen Insekten- und Menschenstaat und kommt zu einem seltsamen Ergebnis:

Ich sage dir dies:
All diese Tiere, all das Gewürm
keines lebt ohne Haß.
Sie leben in wütendem Kampf.
Doch in einem haben sie Verstand:
Sie wären nichts,
hätten sie sich nicht ein starkes Gesetz geschaffen:
Sie wählen sich Könige,
sie bestimmen Herren und Knechte.
Ach, Deutschland,
wo ist deine Ordnung?

Was hat dieser Ruf nach einem starken Mann mit der intensiven Selbsterforschung des Anfangs zu tun? Bricht Walther hier bereits dem Sozialdarwinismus eine Stange? Sein Gedicht jedenfalls gipfelt in dem Ausruf:

Ach, Gott, der Papst ist zu jung.
Hilf, Herr, deiner Christenheit!

Erneut erleben wir das beständige Zurückgreifen in jener Zeit auf die Religion, sie ist das Färbebad, das jede Lebensäußerung des mittelalterlichen Menschen durchtränkt. Ein Leben außerhalb des Gottesstaates gab es nicht, es war in Hegelschem Sinne nicht einmal denkbar. Selbst der Ketzer – ein Wort übrigens, das erst im ausgehenden Mittelalter auftauchte – zweifelte nicht an der göttlichen Ordnung, er hatte nur eine andere Methodenauffassung. Wenn also vom Mittelalter und seiner Kultur, speziell von seiner Literatur die Rede sein soll, muss zuerst über Religion gesprochen werden. Erst aus dieser Blickrichtung kann auf die nur scheinbare Gegenwelt der höfischen Minnedichtung, die in der Hauptsache die Popularisierung der ethischen Grundwerte des sich gerade entwickelnden neuen Standes Ritter ist, eingegangen werden. Und erst danach kann auch der Inhalt des zitierten Gedichtes, das im übrigen ein überragendes Thema des Mittelalters, die Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst, thematisiert, verstanden werden.

[ZUM ZWEITEN TEIL]

Fußnoten

1 Die Wurzeln dieser Gattung reichen eben nicht nur zu J. R. R. Tolkin (Herr der Ringe) und den amerikanischen Pulpromanen der zwanziger Jahre (z. B. Robert E. Howards Conan, der eine sonderbare Vorwegnahme nationalsozialistischer ‘Weltanschauung’ und Allmachtsträume darstellt) zurück, sondern nicht von ungefähr auch zu der Ritterromantik des 19. Jahrhunderts. Stammvater ist hier Willam Morris mit seinem heute fast unlesbaren Epos Die Quelle am Ende der Welt (1896). Leider zeigt die Fantasy, die heute übrigens paradoxerweise von Autorinnen beherrscht wird, in ihrer Blut- und Bodenmentalität, ihrer Gewaltverherrlichung und ihrer häufigen Rassendiskriminierung nur allzu oft faschistische Züge.

2 F. Seibt, Glanz und Elend des Mittelalters, Berlin 1987 (Siedler), ein lesbares Standardwerk, das allerdings zu sehr den Investiturstreit in den Mittelpunkt des Interesses stellt.

3 Ich verwende, falls keine anderen Quellen angegeben sind, eigene, zugegebenermaßen unbekümmerte Übertragungen. Das hat den schlichten Grund, dass ich mit den meisten der tradierten Übertragungen nicht zufrieden bin. Sie halten sich entweder viel zu streng an das vorgegebene Versschema und entfernen sich durch den gekünstelten Reimzwang zu weit von der Vorlage. Die Prosaübertragungen hingegen leiden an ihrer Umständlichkeit, sie schwächen den Inhalt ab oder umschreiben ihn mühsam. Dies ist um so erstaunlicher, als gerade die Sprache der Minnedichter nichts an Prägnanz und  atmosphärischer Dichte zu wünschen übrig läßt. Als Beispiel möge eine herrliche Strophe des Wilden Alexanders (um 1280) dienen:
Minne ist solch geselle,
swer ir dienen welle,
hiute süeze, morne sûr.
leit ist liebes nâchgebûr.
Und jetzt die Prosaübertragung von Ingeborg Glier:
Minne ist dem, der ihr dient, eine Gefährtin, die heute freundlich, morgen grausam ist. Leid und Freude wohnen nahe beieinander.

Dem ist wohl nichts mehr hinzuzufügen.
4 René Descartes, Prinzipien der Philosophie, 1. Teil. Übers. v. K. Fischer, S. 165f,Mannheim 1863

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