Rieser Rad

Herr Klammer muss bewegt werden, so lautet zumindest der Beschluss seiner Frau und deshalb zerrt sie ihn zweimal die Woche vom Schreibtisch hinaus in die Natur, die dann eifrig mit Wanderschuh oder Rad durchmessen wird. Ohne körperliche Ertüchtigung geht der Klammer auf wie Hefeteig an einem warmen Sommertag.

Aus diesem Grund haben wir kürzlich  eine Anhängerkupplung ans Auto und einen passenden Heckträger für die Räder erworben. Bislang war das Wetter ungeeignet für Ausflüge, doch gestern passte endlich alles und ich war bereit, meinen Roman für ein paar Stunden zur Seite zu legen. Unser Ziel war das Nördlinger Ries.

Achtung, jetzt kommt der Schlauberger:

ries3Das Ries ist eine fruchtbare Kulturregion, die vor 14 Millionen Jahren ein Meteorit kreisrund in die Schwäbische Alp gestanzt hat. Diese Region mit einem Durchmesser von 22 km ist seit frühester Zeit Siedlungsgebiet und Kornkammer der Umgegend. Nach Neandertalern, Frühmenschen, den Römern und den Allemannen leben jetzt in den überschaubaren pittoresken (ha!) Dörfern und mittelalterlichen Städtchen blitzsaubere und wohlgenährte Schwaben. Auch Herrn Klammers Vorfahren, brave Tagelöhner, Großknechte und Schneidermeister, stammen aus dem Ries, einer Urlaubsregion, die von einem Netz Wander- und Radwegen überzogen ist.

Schlauberger Ende.

Startpunkt unseres Rundkurses war die Ortschaft Wallerstein, die berühmt für ihre Brauerei ist und nicht mit der billigen und scheußlichen Biermarke des Nachbarortes Oettingen verwechselt werden darf, das  in jedem Supermarkt erwerbbar ist. Direkt an der Bauerei des Fürsten Wallerstein führt der launige (2x ha!) Radweg 3 vorbei, dem wir bis Maihingen folgten, wo ein spätbarockes Klosteresemble (wer Barock mag…) in den Händen des Inneren Kreises der Luminaten ist. Die ehemaligen Wirtschaftsgebäude des Klosters gehören allerdings dem Bezirk Schwaben und werden als Museum genutzt. Dort fand gestern ein kleines Kräuterfest statt, auf dem es Brennnesselspätzle mit Ziegenfrischkäse, Holderküchle, allerlei Ur-Pflanzen und den obligaten Seifenstand gab. Gut gestärkt ging die Tour weiter über die Romantische Straße vorbei an Wiesen, Feldern und Einödhöfen, durch Wälder und sonntäglich ausgestorbene, aber sauber geputzte Dörfer bis nach Geislingen, das am Nordrand des Ries liegt. Lichtjahre von zuhause entfernt drangen die Klammers in Gegenden vor, die nie zuvor ein vernünftiger Mensch betreten hat. In Enslingen, ich bin mir sicher, habe ich auch den niedrigen Bretterzaun gesehen, der das Ende der Welt markiert. Ein paar Blumen wuchsen dort und ein Reh sprang über den Weg.

ries2Ach, ja. Hinter Geislingen wollten wir dann auf dem Weg 3b in einem ausladenden Bogen zurück ins etwa 15 km entfernte Wallerstein, wo ein gepflegter Biergarten mit guter Küche auf uns wartete, doch mit der Idylle war es bald vorbei: Frau Klammerles Hinterreifen (es ist immer der Hinterreifen!) zerplatzte mit einem Knall, als wäre sie über eine Landmine gefahren. Mantel und Schlauch waren so zerfetzt, dass an eine Reparatur nicht mehr zu denken war.

Es wurde ein langer Rückweg unter einer heißen, stechenden Nachmittagssonne, mit angstvollen Blicken in den Westen, wo am Horizont die ersten Gewitterwolken dräuten –  den zu beschreiben ich aber Wolfram von Eschenbach überlasse, der hier übrigens über eine der seltenen Hungersnöte im Ries berichtet:

Ein Bild des Jammers –
die Beine waren fahl wie Asche,
und die Gesichter gelb wie Lehm.
Aus Mangel wurde Hungersnot,
es gab nicht Käse, Fleisch und Brot,
man gab das Zähnestochern auf,
sie machten keinen Wein mehr fettig
mit den Lippen – falls sie tranken…

Die Wampen waren eingesunken,
die Hüften ragten knochig hoch
und schrumplig wie Ungar-Leder
lag die Haut auf ihren Rippen.

Aber wir haben alles überlebt und – das Wichtigste – Herr Klammer wurde bewegt.

ries4

5 thoughts on “Rieser Rad”

  1. Mein Verleser des Morgens: blitzsaubere und wohlgenährte Schwalben … und rein beweglichkeitsmäßig trifft solches zumindest auf Frau Klammer zu.

  2. Das zeugt von Mut: Frau Klammerle als wohlgenährte Schwalbe zu bezeichnen. Ich bin gespannt, wie du dich da wieder rausredest.

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