Orte (I)

Der Roman spielt im Weichbild einer mittelgroßen deutschen Stadt, deren Alltäglichkeiten Jonas Habakuk immer wieder die Chance bieten, sich an ihnen festzuklammern, wenn er das Gefühl hat, ihm wird der Boden unter den Füßen weggerissen. Aber auch dieser vermeintlich sichere, durch seine Wiederholungen sichere – gezähmte – Alltag hat seine Tücken und der Grund, auf dem sich Jonas bewegt, ist brüchiger, als er zu Beginn der Geschichte glaubt.
Da ich denke, dass ein Autor nur von Dingen schreiben sollte, von denen er etwas versteht, ist diese „Realität“ der meinen zumindest nahe:

»Rechts an der Seite des gotischen Rathauses führten vom Platz weg einige Stufen hinunter in die überschaubare Altstadt, die nahezu quadratisch in ihren Ausmaßen von Kanälen und großen Ausfallstraßen begrenzt in Jonas Erinnerung von Tourismus und Bauvorhaben nahezu ungestört von den Zeiten träumte, als man noch eine bedeutende Handelsstadt war. Noch immer zeugten die schmalen, schattigen Gassen, die einander zugeneigten Hausfronten, die vorspringenden Erker und verwinkelten Hinterhöfe vom Versuch, der Enge Raum abzutrotzen und die sprechenden Straßennamen vom Leben in der mittelalterlichen Stadt. Ein buntes Volk hatte sich in den Achtzigern in den kleinen, niederen Wohnungen eingemietet, die renovierungsbedürftigen Fassaden hinter Efeu und Geißblatt versteckt und bot in den Läden Kunsthandwerk, gebrauchte Bücher, Tätowierungen, verschrumpelte Bioäpfel und billige Haarschnitte an. Nirgendwo in der Stadt gab es mehr gemütliche Kneipen, die eine leicht ranzige Wohnzimmeratmosphäre ausstrahlten.
Seit Jonas nicht mehr studierte und aufgehört hatte, mit seinen Freunden nachts um die Häuser zu ziehen – besser gesagt, ihm waren die Freunde ausgegangen, mit denen er Kneipentouren machen konnte, weil alle außer ihm praktisch von einem Tag auf den anderen wie auf ein geheimnisvolles Zeichen hin begannen, Familien und Heime zu gründen – war er immer seltener in die Altstadt gekommen und irgendwann dann überhaupt nicht mehr. Es war nicht so, dass er sie mied, aber er hatte mit einem Mal keinen Grund und keine Zeit gefunden, am Rathaus vorbei hinunter in die Unterstadt zu gehen. Sein Leben spielte sich oben in der Moderne ab, hinter den Stahl- und Betonfassaden und den verspiegelten Fensterfronten der Geschäftshäuser.
Doch nun betrat er, nach einer alten Adresse suchend, die Orte seiner Studentenzeit und stellte mit jedem Schritt fest, wie sehr sich Wirklichkeit und Erinnerung unterschieden. Obwohl er nur wenige Jahre nicht mehr hier gewesen war, hatten sich Charakter und Stimmung vollkommen verändert. Der Charme des Verrottens und der Bewegungslosigkeit war dahin. Die Stadt hatte den Wert ihres Schatzkästleins für den Tourismus erkannt, Kanäle aufgedeckt und das alte, schadhafte Pflaster gegen leblos terracottafarbenes Katzenkopfpflaster eingetauscht; findige Bauherren die Altstadthäuser aufgekauft, Fassaden renoviert, das Innere entkernt, Bäder eingebaut und in großflächige Eigentumswohnungen verwandelt. Natürlich saß jetzt auch ein anderes Publikum vor den Lokalen, die nicht mehr einfache Studentenkneipen waren, sondern sich mit viel Echtholz und Chrom in mondäne Straßencafés und Pubs verwandelt hatten, in denen es zwanzig Sorten Kaffee und fünfzig Sorten schottischen Whiskeys gab. Auch die liebenswert amateurhaften Läden waren verschwunden, hatten ihren Platz Filialen großer Parfümerieketten und Boutiquen, Goldschmieden, Blumenläden, Coiffeuren und Coffee-Shops geräumt. Jonas fühlte sich alt, von gestern. Auf seiner Suche fand er nur noch wenige Erinnerungsorte und einmal hätte er sich beinahe verlaufen, ganz, als hätten sich Straßenzüge verschoben, wären Querstraßen gewandert, Plätze verbaut und an anderer Stelle wieder eröffnet worden. Viel trugen auch die nun offenen Kanäle, die die schmalen Straßen noch enger machten, zu diesem Eindruck bei. Insgesamt wirkte die Altstadt nun auf Jonas wie desinfiziert, wie ein steriles, lebloses Museumsdorf. «

Auszug aus dem 2. Kapitel

Aber auch die geträumten, erzählten oder erdachten Orte – die ‚Anderswelten‘ – müssen exakt beschrieben werden, nur dann bekommen sie die Bedeutung, die ihnen zusteht:

»„Ich fiel also an einem feuchtkalten Wintertag vom Kopf der Treppe und landete zu ihrem Fuß im rötlichen Staub eines Sommernachmittags, mit schützend nach vorn gestreckten Armen. Wo waren die Handschellen plötzlich hingekommen? Langsam und verwirrt richtete ich mich auf und sah mich zögernd um. Hier war mir alles fremd und bekannt zugleich, als würde ich eine vertraute Umgebung durch einen Zerrspiegel betrachten. Da waren hinter mir die Treppe und die Residenz, hier lag der Hof, standen meine Statuen – aber das Haus und die Treppe hatte jemand vor langer Zeit mit abblätternder, weißer Farbe getüncht und der Hof mit meinen Kunstwerken war in eine Terrasse verwandelt. Alle anderen Häuser, ja, das ganze Viertel war verschwunden: Ich sah über von heißem Sommerwind bewegte Olivenbäume in ein Tal, das sich in sanftem Bogen zu einem Meer hin öffnete.
Dort unten am Ufer lag eine kleine rotbraune Stadt, die mit unserer hier wenig Ähnlichkeit hatte, verschachtelte Häuser, schmale Gassen, barocke Gebäude, ein strahlendweißer Dom. Rechts am Meer thronte eine ausladende, gut erhaltene mittelalterliche Zitadelle. Und über allem glitzerte ein staubig gelber Himmel. Es war eine fremde, südländische Welt irgendwo in Spanien oder Italien, in die ich gefallen war. Mein Verstand weigerte sich lange, zu glauben, was meine Augen sahen. Trotzdem war ich sicher, diese Landschaft zu kennen, vielleicht aus einem nahezu vergessenen Traum heraus, der mich erneut gefangen hielt. Aber ich war mir meiner bewusst, alles war fest und unveränderlich, ich spürte den heißen Wind auf meinem nackten Oberkörper, konnte die scharfen Kanten meiner Kunstwerke unter den Fingern spüren. Es roch nach Salz und Rauch. Das konnte kein Traum oder ein Drogenwahn sein.
Ich setzte mich, so, wie ich war, auf den Boden, unfähig, etwas anderes zu tun, als zu starren. Eine unheimliche Macht, vielleicht Gott, hatte mich mitsamt meinem Haus aus meiner Welt ausgeschnitten und auf die Postkarte einer unwirklichen Mittelmeeransicht geklebt. Mit dem Bild einer Postkarte war ich übrigens näher an der Wahrheit, als mir bewusst war.
Ich weiß nicht, wie lang ich saß, über den verwilderten Olivenhain hinunter auf die unter der Hitze flimmernde Stadt starrte und mich den brennenden Strahlen einer hinter dem Haus stehenden Sonne aussetzte, aber dann merkte ich: Hier war etwas ganz und gar nicht richtig. Die kleine Stadt dort unten war zu bewegungslos, selbst wenn ich die nachmittägliche Siesta einrechnete. Ich konnte keine Fußgänger oder Fahrzeuge erkennen. Auf dem Wasser dümpelten keine Boote, nirgendwo reflektierte ein sich öffnendes Fenster die Sonne, kein Hundegebell klang herauf, kein Glockengeläut von den Kirchen. Die einzigen Bewegungen machten die sich unter dem heißen Wind beugenden Zweige der Olivenbäume, die ihre Grünspanblätter unendlich langsam vor mir neigten.
Auch der Stand der Sonne änderte sich nicht. Obwohl ich bestimmt schon eine Stunde oder länger im Hof saß, war der Schatten, den mein Körper vor mir auf das Pflaster warf, nicht gewandert. Die Sonne stand wie festgenagelt am Firmament. Wie heißt noch einmal dieser Prophet, der den Lauf der Sonne bremste? Egal. Als ich die unheimliche Bewegungslosigkeit bemerkte, war ich endlich fähig, wieder etwas zu unternehmen. Ich stand auf. Mein Rücken spannte und juckte bei jeder Bewegung schmerzhaft – ich hatte mir durch meine Entschlusslosigkeit einen ordentlichen Sonnenbrand geholt. Ich traf die Entscheidung, alle großen Fragen hintan zu stellen und mich um den offenbar endlosen Augenblick zu kümmern: Ich musste aus der Sonne und ich hatte Hunger.«

Auszug aus dem 2. Kapitel

Mein Drang, Orte in der Beschreibung zu fixieren, mich an ihnen festzuhalten und sie in das Gedächnis zu meißeln, mag manisch erscheinen. Aber Orte sind die wichtigen Landmarken im Leben, unsere Erinnerungen führen uns immer wieder zu ihnen zurück.
Einen Roman muss man schreiben, indem man Orte beschreibt und die Beziehungen, die Menschen zu den Orten (ihrer Heimat?) haben – auch wenn sie nur in ihrer Fantasie existieren.

3 thoughts on “Orte (I)”

  1. Öha – niederbayrischer Ausdruck höchsten Erstaunens -, Freund Klammerle, begnadeter Autor, ist nicht nur Vegetarier, sondern auch Anhänger der allgemeinen neudeutschen Natürlichkeit. Zitat: „Natürlich saß jetzt auch ein anderes Publikum vor den Lokalen.“
    Natürlich oder selbstverständlich? Saß jenes andere Publikum von der Natur so vor die Lokale hingepflanzt, wartete gar auf natürliche Vermehrung … durch Blüten, Pollen und Bienchen? Oder saß es in angemessener Selbstverständlichkeit dort, weil man nun mal sitzt, wo man meint, wie selbstverständlich dazu zu gehören?
    Nix für ungut, mein Klammerle, aber Du kennst ja meine Passion.

  2. Dieser Kommentar war natürlich selbstverständlich. Und natürlich neige ich dazu, natürlich wie selbstverständlich zu benutzen. Natürlich ist das selbstverständlich nicht ganz richtig. Selbstverständlich werde ich diesen Flüchtigkeitsfehler verbessern, natürlich. Es ist ganz natürlich und selbstverständlich, dass mir im Eifer des Gefechts so etwas passiert… Alter Beckmesser, du…
    Ersthaft: Im Text entspricht es der Natur der Sache, dass sich ein neues Publikum breitmacht, es ist als nur natürlich, dass in den Cafés andere Leute sitzen.

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